Berufsbildung im Clinch der Akademiker

Kolumne Strahm für Schweiz. Gewerbezeitung,  30.9.2011.

Berufsbildung im Clinch der Akademiker

Es war tiefster Winter in Klosters. Gewerbliche Winterkonferenz im Silvretta Parkhotel. Der in Deutschland lehrende Schweizer Philosophieprofessor Walther Ch. Zimmerli dozierte vor den Gewerbeverbands-Vertretern wörtlich: „Jeder dritte Lehrabgänger findet heute nach der Ausbildung keine Stelle“. So stand es wörtlich auch in seiner Referatsprojektion, die er unter dem illustren Signet „Brandenburgische Technische Universität Cottbus“ präsentierte.

Gleich nach seiner Rede in Klosters wurde der geschwätzig-eloquente Professor mit der Gegenmeinung konfrontiert: Eine solche Aussage könne unmöglich stimmen. Würde die Arbeitsintegration von Lehrabgängern derart schlecht ausfallen, würde dies zu einer vernichtenden Reputation für die schweizerische Berufslehre werden.

Eine solche Behauptung wirkt sich auch deshalb verheerend aus, weil Professor Zimmerli nach eigenem Bekunden über 50 Auftritte über das schweizerische Bildungssystem und über die von ihm behaupteten Mängel der Berufsbildung absolvierte. In der Pressekonferenz des ominösen Weissbuchs zur Zukunft des Bildungssystems bis 2030 hatte er sich laut NZZ auch zur Aussage verstiegen: „Die Berufslehre ist ein Auslaufmodell“. (Diese Killerphrase wagte er in Klosters vor dem Gewerbe allerdings nicht zu wiederholen.)

Nach diesem fulminanten Auftritt in Klosters haben wir Zimmerli schriftlich nach den Quellen seiner Killerthese befragt, wonach jeder dritten Lehrabgänger nach der Berufslehre keine Anstellung finde.  Er nannte uns einen kurzen Artikel aus dem Internet, der vom KV Schweiz stammt und eine Lehrabsolventenbefragung zitiert. Danach gelangten wir an den KVSchweiz, beschafften die vollständigen Presseunterlagen und verlangten vom Verband eine Interpretation und Klärung.

Diese Klärung der Umfrageresultate zur Stellensituation von Lehrabgängern ergab folgendes Resultat: Im Juli 2010, also zum Zeitpunkt des Lehrabschlusses der KV-Lehrlinge, hatten 28,5% der Lehrabgänger tatsächlich noch keine feste Anstellung gefunden. (Ein Jahr später, im Juli 2011, waren es 26.1%). Der Juli ist normalerweise der Monat der Beendigung der Berufslehre, und da ist es verständlich, dass viele Lehrabsolventen noch in der Schwebe sind. Nur auf diesen Monat hatte sich Zimmerli berufen.

Die Zweitbefragung dieser Lehrabgänger im November 2010, also vier Monate danach, ergab, dass nur noch 11% der Lehrabgänger stellenlos verblieben waren. Wobei einige davon im Auslands- und Sprachaufenthalt oder im Militärdienst (Rekrutenschule) steckten. Aufgrund einer Rückfrage beim KVSchweiz wird geschätzt, dass ein Jahr nach Lehrabschluss weniger als 5% keine Stelle haben.

Mit andern Worten: Ein Jahr nach Berufsabschluss haben über 95% der Lehrabgänger eine Stelle resp. stecken schon in einer Weiterbildung. Im Vergleich dazu: Ein Jahr nach Studienabschluss haben nur 50% der schweizerischen Universitätsabgänger eine feste Anstellung im abschlussadäquaten Beruf.

Professor Zimmerli hat also wahllos den schlechtesten, weil frühesten Wert herausgepickt und in die Killerthese umformuliert, jeder dritte Lehrabgänger fände keine Stelle. Mit dieser Behauptung tingelt er nun durchs Land, um seine These vom „Auslaufmodell Berufslehre“ mit professoralem Imponiergehabe zu „beweisen“.

Ich mache diese Episode erneut zum Thema, weil sie irgendwie systematisch ist. Da wird mit einer Mischung von standespolitischen Interessen der Universität und akademischem Dünkel die Berufsbildung schlecht geredet, ohne sie wirklich zu kennen. Man spricht vom „Trend zur Wissensgesellschaft“, um die Maturitätsquoten hochzustemmen und mehr Finanzen für die vollschulischen und akademischen Bildungswege zu mobilisieren.

Der Trend zur Wissensgesellschaft ist zwar unverkennbar – mehr Computer, mehr Informatik, mehr Digitalisierung, mehr fremdsprachige Kommunikation – aber die Wissensgesellschaft entwickelt sich nicht nur über die Hochschulkanäle, sondern sie läuft quer durch alle Berufe über die Weiterbildung. Auch handwerklich-gewerbliche und gewerblich-industrielle Berufe stützen sich immer stärker auf Computer, CNC-Automaten,  informatisierte und digitalisierte Steuerungen. Fast alle Berufe, nicht bloss die akademischen Bildungsgänge, erfordern neue Wissenselemente. Deshalb muss die Vermittlung von Grundwissen und Berufskenntnissen quer durch alle Berufslehren laufen. Es braucht auch in der Berufslehre zwei, drei Schulstunden mehr als heute, ohne die Lehre zu „verschulen“. Der Abstand zum Gymnasium darf nicht zu gross werden.

Man muss einige Vorzüge zur Berufslehre in Erinnerung rufen: Erstens die Bildungssysteme mit einer dualen Berufslehre sind bezüglich Arbeitsmarktintegration den vollschulischen Bildungssystemen überlegen. Die fünf Berufsbildungsländer mit Dualsystem in Westeuropa, nämlich die Schweiz, Westdeutschland, Oesterreich, Holland und Dänemark, haben eine Jugendarbeitslosigkeit, die zwei bis drei mal tiefer liegt als jene in den vergleichbaren Industriestaaten ohne Berufslehre. Es gibt keine effizientere und wirksamere Prävention der Arbeitslosigkeit als die Berufslehre.

Zweitens ist die Berufslehre entscheidend als Ausgangspunkt für berufspraktische und technische Weiterbildungen, die zu höherer Produktivität und internationaler Konkurrenzfähigkeit führen. Die berufliche Weiterbildung und höhere Berufsbildung ist das verbreitetste und wichtigste Instrument zur raschen Diffusion neuer Technologien in die Wirtschaft hinein.

Und drittens sind die wirtschaftlichen Resultate der Berufsbildung manifest: Die Schweiz, Deutschland, Holland, Dänemark haben trotz hoher Löhne einen Handelsbilanzüberschuss, das heisst, sie exportieren mehr als sie importieren, während die meisten Nichtberufsbildungsländer Europas einen Negativsaldo ausweisen.

Die Berufsbildungsszene darf sich nicht alles gefallen lassen. Sie sollte mehr Selbstvertrauen entwickeln und dieses zur Schau stellen. Und sie muss den elitären Denkmustern eine Antwort entgegen zu halten. Das neue Hochschulförder- und Koordinationsgesetz HFKG wird der Akademisierung und der Dominanz der Universitäten weiteren Vorschub leisten. Dass vermutlich kein Referendum gegen dieses Gesetzesmonster ergriffen wird, muss bedauert werden. Es ist eine verpasste Gelegenheit, den Akademisierungstrend einmal demokratisch zur Diskussion zu stellen.

Zur publikumswirksamen Selbstdarstellung der Berufsbildungsszene ist gewiss auch die erneut stattfindende Berufsbildungs-Olympiade ist ein gutes Vehikel. Es bräuchte aber noch weitere.

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