Nationaler Qualifikationsrahmen: EU-Raster über die Berufsbildung
T E I L I : Beschreibung des Nationalen Qualifikationsrahmens NQR.
Schweizerische Gewerbezeitung vom 7. November 2014.
Die meisten Berufsverbände und Organisationen der Arbeitswelt wissen noch kaum, was unter dem Titel „Nationaler Qualifikationsrahmen NQR“ auf sie zukommt und was dessen Folgen für das Berufsbildungssystem sind.
Mit dem „Projekt NQR“ wird der Europäische Qualifikationsrahmen EQR über das schweizerische Berufsbildungssystem gestülpt. Der EQR ist geprägt von der vollschulischen Bildungsphilosophie der EU-Länder und orientiert sich konzeptionell am Raster des Bologna-Systems .
Wie die NQR-Schablone aussieht
Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI rief im Oktober zu einer Tagung über den NQR. Es kamen nahezu 400 Interessierte, vor allem die Bildungsanbieter und die bildungsverantwortlichen Funktionäre aus den Verbänden. Bereits im August 2014 hatte der Bundesrat die NQR-Verordnung auf den 1. 10. 2014 ohne weitere Konsultationen überstürzt in Kraft gesetzt. Das weitreichende NQR-Einstufungsprogramm wurde in der ständerätlichen Kommission als Gegenstrategie des SBFI gegen die Titeläquivalenz und die titelbezogene Aufwertung der Höheren Berufsbildung (Motion Aebischer) gepriesen.
Der Qualifikationsrahmen kennt eine Abstufung von 1 bis 8 Niveaus. Dabei sind im akademischen Bereich der Bachelor-Titel als Stufe 6, der Master als 7 und das Doktorat als 8 eingestuft. Nun soll dieser Rahmen mit der Bezeichnung NQR-B auch über das Berufsbildungssystem Schweiz gestülpt werden. Rund 730 Berufsabschlüsse sollen in den Raster 1-8 eingestuft werden, und zwar folgende Diplomabschlüsse: das Eidg. Berufsattest EBA, das Eidg. Fähigkeitszeugnis EFZ, der Eidg. Fachausweis (Berufsprüfung), das Eidg. Diplom (Höhere Fachprüfung) und das Diplom HF (Höhere Fachschule). Zu jedem formalen Abschluss muss zusätzlich zur NQR-Einstufung eine Zeugniserläuterung (in der Beruflichen Grundbildung) resp. ein Diploma Supplement (für die Höhere Berufsbildung) formuliert werden. Titel und Zusätze sollen in allen Landessprachen und auf Englisch festgelegt und in einem Berufsregister im Internet publiziert werden.
Wie die Einstufung in den NQR vor sich gehen soll
Die Organisationen der Arbeitswelt OdA müssen individuell einen begründeten Antrag zur NQR-Einstufung aufgrund eines Leitfadens sowie Textvorschläge für die Diplombezeichnung und den Diplomzusatz an die Behörde einreichen, und zwar für jeden der 730 Abschlüsse einzeln. Sie können dabei Formulierungsvorschläge unterbreiten. Das Eidgenössische Hochschulinstitut EHB wird für den Bund ein „Konsistenzprüfungsverfahren“ durchführen, einen Bericht erstellen, bei Einstufungs- und Beschreibungsdifferenzen mit den OdAs die Verhandlungen führen und danach dem SBFI einen Antrag stellen.
Das SBFI entscheidet letztlich über die NQR-Einstufung, die Diplombezeichnung in allen Sprachen und den Diplomzusatz. Wenn keine Einigung mit den OdA zustande kommt, verweigert es die Einstufung. In den Erläuterungen zur NQR-Verordnung wird explizit gesagt, dass die OdAs keine Rekursmöglichkeit gegen die Niveauzuteilung ihrer Berufsabschlüsse haben. Als Sanktion bei Nichteinigung ist die Streichung der betreffenden Berufe aus dem NQR-Berufsregister im Internet möglich.
Soweit die kurze Beschreibung des Grossprojekts, das in den nächsten Jahren die ganze Berufsbildungsszene beschäftigen wird. Es wird unzählige Arbeitsstunden in der Bildungsbürokratie der Verwaltung und in den OdAs beanspruchen. Auf die Frage nach der richtigen Formulierung und Substanzierung der Einstufungsanträge kam die Antwort, die Verbände müssten halt einen externen Experten beiziehen.
Blick auf Europa, kein Blick auf Inländerdiskriminierung
An der SBFI-Tagung wurde als oberster Zweck der mehrjährigen Riesenübung
angegeben, dass die schweizerischen Berufsabschlüsse im Ausland anerkannt werden und schweizerischen Absolventen den Marktzugang im Ausland eröffnen. Der schweizerische NQR soll sich eng an den europäischen EQR anlehnen und möglichst die gleichen Niveau-Einstufungen zur Folge haben. Ein schweizerischer Berufsabschluss soll in der Beschreibung und Einstufung möglichst jenem im Ausland entsprechen, um den Zugang schweizerischer Berufsabsolventen auf dem internationalen Arbeitsmarkt zu erleichtern.
Mit keinem Wort wurde das umgekehrte Anerkennungsdefizit erwähnt, nämlich die Herstellung gleicher Chancen für schweizerische Berufsbildungsabsolventen im Inland gegenüber den im Ausland rekrutierten Titelinhabern, die im Zeichen der Personenfreizügigkeit mit akademischen Titeln daherkommen und in schweizerischen Grossfirmen die Inländer mit Höherer Berufsbildung konkurrenzieren oder verdrängen. Diese real existierende, aktuelle Inländerbenachteiligung durch die fehlende Titeläquivalenz im inländischen Arbeitsamarkt ist für das SBFI kein Thema.
Fragen und Misstrauen
Die Debatte an der erwähnten Berner Tagung führte – mit Ausnahme der zuvor eingeweihten Verbandsfunktionäre – eher zur Verunsicherung und Skepsis. Zahlreiche Fragesteller zeigten sich skeptisch und äusserten Zweifel an der Praktikabilität.
Wer hatte diese Monsterübung eigentlich gewünscht? Die schematische Niveauzuordnung wird das schweizerische Berufsbildungssystem weiter in die Verschulung treiben und der Logik der europäischen Bildungssysteme unterwerfen. Zwar ist 2012 eine Vernehmlassung zum Qualifikationsrahmen durchgeführt worden, mit sehr unterschiedlichen Resultaten und zu diesem frühen Zeitpunkt mit sehr allgemein gehaltenen Angaben des BBT. Es wusste damals niemand, wie dieses System angewandt werden soll.
Der tiefere Grund für die Eile, den SBFI-Mitarbeiter klar benennen, ist die überstürzte Gegenstrategie des Departements und der SBFI-Leitung gegen die Aufwertung der Höheren Berufsbildung, wie sie von den Bildungsanbietern, den Berufsberatern, dem Schweizerischen Gewerbeverband und dem Schweizerischen Verband für Weiterbildung gefordert werden. (Rudolf Strahm)
Weitere Informationen: www.nqr-berufsbildung.ch
———————————————————————————————————————————————————————————————————————–
Kommentierung: Beschäftigung für Bildungsbürokraten
Teil II: Tribüne in : Schweizerische Gewerbezeitung vom 7. November 2014.
Mit dem aufwändigen NQR-Projekt soll ein achtstufiger Qualifikationsrahmen, der sich am Europäischen System orientiert, auf das schweizerische Modell der dualen Berufsbildung und Höheren Berufsbildung überstülpt werden.
Wir formulieren hier acht Fragen zum Projekt.
- Ist die Vergleichbarkeit der Berufe möglich?
Das SBFI konnte bei seiner Präsentation keine einleuchtende Antwort geben auf die Frage, wie und nach welchen Kriterien die Berufe zu bewerten und einzustufen sind. Man verwies auf einen „Leitfaden“ als Hilfe zur Beschreibung von „Deskriptoren“ der Kompetenzen. Wie werden die Kompetenzen beschrieben? Wie werden die Deskriptoren bewertet und gewichtet? Wie sind die Berufsabschlüsse des dualen schweizerischen Berufsbildungssystems vergleichbar mit jenen aus Ländern mit nur vollschulischen Bildungsgängen? In England studiert man Pflegefachfrau (Nurse) nur an der Hochschule. In Südeuropa wird der diplomierte Schweisser nur in einer technischen Schule in Metallurgie und andern schulischen Fächern aber ohne Praxis ausgebildet. Wie werden die von der Wirtschaft geschätzten Stärken, etwa die Arbeitsmarktfähigkeit und die berufspraktischen Kompetenzen, valorisiert? Was wird da zum Vergleich gezwungen, wenn zwei ungleiche Berufsbildungssysteme nebeneinander stehen?
- Einstufung über den gleichen Leisten?
Für die Zuordnung der Berufsabschlüsse mit dem EFZ ist grundsätzlich die Einstufung auf NQR-Niveau 4 vorgesehen. Sollen damit niederschwellige Berufsabschlüsse eines Malers oder Kochs gleich eingestuft werden wie etwa wissensbasierte, anspruchsvolle Berufe eines schweizerischen Polymechanikers, Informatikers oder eines Kaufmanns, einer Kauffrau, die mindestens über so viel Wissens- und Anwendungskompetenzen verfügen wie ein ausländischer Ingenieur resp. ein Bachelor auf der EQR-Stufe 6? Josef Widmer vom SBFI beteuerte, bei der NQR-Einstufung sei die „Systemoptik“ im Vordergrund, also die Zuordnung zur Bildungssystematik, anstatt ein branchenübergreifender Vergleich. Ein Coiffeur-Beruf oder Informatikerberuf dürfe nicht miteinander verglichen, sondern im Rahmen ihrer je branchenspezifischen Bildungshierarchie zugeordnet werden. Ob dies der Reputation der höherschwelligen, wissensbasierten Berufslehren dient, bezweifle ich. Wie wird der bildungsfremde Funktionär des KV Schweiz, ein glühender Befürworter dieser NQR-Übung, seinen karriereorientierten KV-Absolventen die Einstufung bloss auf Niveau 4 oder 5 verkaufen? Wird der NQR im Endeffekt zu einem Berufsbildungs-Killer? Meine langjährige Praxiserfahrung national und international ist : Je mehr die schematische Schere des OECD-Bildungssystems angewandt wird, desto schlechter wird die praktische Intelligenz und Berufspraxis bewertet.
- Wer beurteilt – wer beschliesst?
Die OdA und Berufsverbände müssen in Ihren Anträgen bereits Expertenwissen einbringen, notfalls unter Zuhilfenahme externer Beratungsfirmen. Wer verfügt aber im EHB beim sog. Konsistenzprüfungsverfahren über die Kompetenz zur Berteilung und Bewertung der berufspraktischen Deskriptoren? Und wer im SBFI verantwortet den Einstufungsentscheid? Was legitimiert zu diesem weittragenden Behördenakt? Wie erwähnt, ist bei unterschiedlichen Auffassungen zwischen Verband und Verwaltung keine Rekursmöglichkeit gegen die SBFI-Verfügung vorgesehen (es sei denn, sie würde noch geschaffen oder erzwungen). Vorgesehen bei Nichteinigung ist bloss ein Rauswurf aus dem Berufsregister bei Nichteinigung.
- Warum Berufsmaturität beiseite lassen?
Rund 14’000 Jugendliche absolvieren jedes Jahr mit oder nach der Berufslehre die Berufsmaturität BM, neben den 18’000 Absolventen/innen der gymnasialen Maturität. Die BM soll im NQR-Verfahren nicht bewertet und bei der Einstufung nicht berücksichtigt werden. Ist ein solches Verfahren für die Schulen und Absolventen überhaupt nachvollziehbar?
- Nonformale Weiterbildungen und Hochschultitel privilegiert
Die Hochschulen verdienen sich enorme Erträge mit blumigen Weiterbildungstiteln wie Master of Advanced Studies MAS, Diploma of Advanced Studies DAS, Certificate of Advanced Studies CAS oder Master of Business Administration MBA. Diese sehr unterschiedlich nivellierten, nichtakademischen Bildungstitel konkurrieren die formalen, geregelten Abschlüsse der Höheren Berufsbildung. Doch alle die MAS, DAS, CAS; MBA der Fachhochschulen sollen mit dem NQR nicht eingestuft werden. Sie werden damit dem Vergleich entzogen und profitieren weiterhin vom Defizit an Qualitätsprüfung, dafür von der Reputation der Fachhochschulen.
- Wie ist die Höhere Berufsbildung einzustufen?
Die für das ganze Berufsbildungssystem entscheidende Schicksalsfrage, nämlich die Einstufung der Höheren Berufsbildungsabschlüsse, wurde in der Präsentation des SBFI nicht beantwortet. Vorgesehen ist deren Einstufung in den Niveaus 5 bis 7, in Ausnahmefällen auch auf Niveau 8. Eine solche NQR-Einstufung mit dem Diploma Supplement ist indes kein Ersatz für einen übergeordneten Titel! Doch immerhin würde – dies ist der Vorteil der bildungsbürokratischen Monsterübung – manifest werden, dass die Höhere Berufsbildung eben auf dem Niveau der Hochschul-Bachelor und Hochschul-Master einzuordnen wäre.
Ein vorläufiges Fazit: Wer die Schere der OECD-Bildungssystematik im Kopf hat, wird seine Vorteile in dieser NQR-Gleichmacherei finden. Aber der Berufslehre und der Höheren Berufsbildung verhilft sie nicht zu mehr gesellschaftlicher Reputation. Der Trend ins Gymnasium und zur Akademisierung wird weiter gehen.
Rudolf Strahm ist alt Nationalrat (SP) und ehemaliger Preisüberwacher.
in: Schweizerische Gewerbezeitung SGV, 7. November 2014, Seite 16.
So sollen die Abschlüsse in den Nationalen Qualifikationsrahmen
eingestuft werden.
Comments are closed, but trackbacks and pingbacks are open.