von Rudolf Strahm.
Die Volksabstimmung vom 28. November 1993 war ein historischer Meilenstein für die schweizerische Finanzordnung. Mit einem Zwei-Drittels-Mehr wurde nämlich die Mehrwertsteuer im vierten Anlauf gutgeheissen. Zuvor war der Wechsel von der alten Warenumsatzsteuer Wust zur europakompatiblen Mehrwertsteuer MwSt drei mal beim Volk gescheitert.
Dieses kleine Abstimmungswunder war möglich dank eines sozialen Kompromisses, der gerade jetzt, 29 Jahre später, von rechtsbürgerlichen Finanzkreisen und mit Hilfe des ersten SVP-Finanzministers zerstört wird.
1993 war ein Rezessionsjahr. Die Exportindustrie litt damals unter der massiven Frankenaufwertung, die durch Fehlleistungen der Nationalbank verursacht war, sowie wegen der Wust, die sie beim Export nicht zurückfordern konnte (damals Taxe Occulte genannt). In der Wirtschaftskommission des Nationalrats WAK suchte man ohne Zutun des Bundesrats nach einer Lösung. Eine Gruppe von sieben Finanzpolitikern und einer Finanzpolitikerin, von jeder Bundesratspartei zwei WAK-Mitglieder, arbeitete an einem neuen Kompromiss. Ich war dabei; einige unter ihnen leben nicht mehr.
Die Gruppe traf sich informell im Berner Restaurant „Harmonie“ zum Essen. Man wählte die „Harmonie“ nicht wegen des Namens, sondern weil es in der Parlamentariergruppe Liebhaber von Kuttelgerichten gab. Nach mehreren Aussprachen beschloss man, einen vierten Anlauf für den Systemwechsel von der Wust zur MwSt zu wagen. Als Entgegenkommen an die Linke ermöglichte man ein zusätzliches Mehrwertsteuerprozent zur Finanzierung der AHV (eingeführt 1999) sowie jährlich eine halbe Milliarde Franken zur Prämienverbilligung für Schwächere bei den Krankenkassen. Als Konzession an die Banken und die Privatassekuranz, die die MwSt beim dritten Anlauf gebodigt hatte, befreite man diesmal den Finanzsektor ganz von der Mehrwertsteuer. Diese MwSt-Befreiung ist noch heute gültig (Ausnahme bei Vermögensberatungen). Dafür aber sollten – dies war ein Konsens auch bei allen Bürgerlichen – die Stempelsteuern auf den Finanzgeschäften beibehalten werden. Vor der Volksabstimmung vom November 1993 verteidigten alle Bürgerlichen diese Stempelabgaben bei Banken und Privatassekuranz. Gegenüber den Kritikern im Bären- und Leuensaal – solche Versammlungen gab es damals noch häufig – war diese Steuer für den Finanzsektor oft ein matchentscheidendes Argument.
Der soziale Kompromiss hiess also: Mehrwertsteuer für die Besteuerung des Konsums – Stempelabgaben für die Besteuerung des Finanzsektors. Dieser Kompromiss wird nun mit der Vorlage zur gänzlichen Beseitigung der Emissionsabgabe zerstört. Schon seither wurden Teile dieser Stempelsteuern gesenkt, während die Konsumbesteuerung zunahm. Deshalb kämpfen jetzt die Gegner der völligen Beseitigung der Emissionsteuer mit dem Schlagwort vom „Steuer-Bschiss“.
Ich habe das Wort „Steuer-Bschiss“ nicht erfunden. Aber die Abstimmungsvorlage vom Februar versteckt zweifellos zwei Irreführungen für die Stimmbürger. Erstens ist die abzuschaffende Emissionsstempelsteuer nicht eine „KMU-Steuer“ und auch nicht eine „Investitionssteuer“. Diese Kennzeichnungen sind Erfindungen der Werbeagentur der Abschaffungsbefürworter.
Diese Steuer von 1% wird heute erhoben, wenn eine Gesellschaft Aktienkapital (also Eigenkapital) auf dem Kapitalmarkt beschafft. Die erste Million ist steuerbefreit. Kleinfirmen, Gewerbebetriebe und neue Start-up-Gründungen fallen deshalb meist aus der Abgabepflicht. Vier Fünftel der Emissionsabgabe werden aber bei jenen Aktiengesellschaften erhoben, die über 10 Millionen neues Aktienkapital beschaffen. Die Hälfte des ganzen Steuerertrags zahlten vorletztes Jahr jene 55 grossen Kapitalgesellschaften, die zum Beispiel Liegenschaften zusammenkaufen und jene Equity-Beteiligungsgesellschaften, die kleinere Firmen aufkaufen. Sie finanzieren ihre Käufe durch neue Aktienemissionen. Ausgerechnet sie sollen mit der Abstimmungsvorlage befreit werden!
Die zweite Irreführung besteht im Verschweigen der privaten Kosten dieser Bankgeschäfte. Das Emissionsgeschäft ist für Banken enorm gewinnträchtig (im Gegensatz zum Hypothekargeschäft mit den aktuell tiefen Zinsen). Auf der Emission von neuem Aktienkapital werden 5 bis 7 Prozent für Bankleistungen, Notare und Börse erhoben. Kleine Emittenten zahlen mehr, bis 10%, grössere weniger, etwa 2 bis 4%. Dass dieses eine Prozent Emissionsabgabe an den Bund den „Wirtschaftsstandort Schweiz benachteiligen“ solle, ist ein schlechter Witz.
Was beunruhigt, ist dass diese Stempelsteuer-Abschaffung nur einen weiteren Schritt in der Salamitaktik von Steuerentlastungen des Finanzsektors darstellt. Der nächste Schritt ist die beschlossene Teilbeseitigung der Verrechnungssteuer. Wenn das Volk jetzt nicht „Halt“ befiehlt, wird das so weiter gehen.
Die Schweiz ist fast das einzige Industrieland, das die immensen privaten Kapitalgewinne der Aktionäre nicht besteuert. Der Trend, wonach die grossen Kapitaleigner immer reicher werden, sollte man die soziale Balance nicht weiter zerstören. Dem sollten wir uns widersetzen.
(Dieser Text wurde am 25.1.2022 im Tages-Anzeiger, im Bund publiziert)