Grimsel wird zur Nagelprobe

Tribüne von Rudolf Strahm: “Der Bund” vom 21. März 2021

Am 9. Juni stimmt die Schweiz über das Referendum gegen das Bundesgesetz über erneuerbare Energien ab. Es gilt, die fundamentalistische Blockadepolitik zu beenden.

Diesmal soll es mehr sein als eine energiepolitische Feuerwehrübung. Das Stromgesetz oder der «Mantelerlass» will die Rechtsgrundlage für den Ausbau von Strom aus Wasserkraft, Solarenergie und Wind für die nächsten 20 Jahre liefern.

Der Hotspot des Referendums liegt im Kanton Bern. Denn die gewichtigsten der 15 vorgesehenen Wasserkraftprojekte sind neben dem grossen Gornern-Staudamm im Wallis die moderate Erhöhung des bestehenden Grimselsees, der Ausbau des Oberaarsees und die neue Staumauer im eisfrei gewordenen steinigen Vorfeld des Trift-Gletschers. Bekanntlich sind 15 Ausbauprojekte unter der Leitung von Simonetta Sommaruga an einem «Runden Tisch Wasserkraft» mit den grossen Umweltorganisationen von nationaler Bedeutung ausgewählt und akzeptiert worden.

Der kleine Aussenseiterverband Aqua Viva, der sich bisher mit Fischerei- und Seeuferprojekten befasste, wurde wegen seiner fehlenden nationalen Bedeutung in Sachen Wasserkraft aussen vor gelassen.

Aqua Viva hat den lokal verankerten Grimselverein als Mitglied aufgenommen und ruft sich mit Einsprachen und Rekursen in Erinnerung. Dies hat nun einer Gruppe von kompromissfeindlichen SVP-Hardlinern den Vorwand geliefert, jetzt ihrerseits gegen das Stromgesetz und gegen den eigenen Bundesrat Albert Rösti anzutreten.

Im Herbst 2023 hatte die SVP vor den Wahlen noch mehrheitlich für diese Vorlage gestimmt. Wegen dieser neuen Konstellation werden jetzt die Grimsel-Ausbauprojekte zur Nagelprobe der viel weitreichenderen Referendumsvorlage.

Ich muss hier meinen persönlichen Bezug zur bald vierzigjährigen Auseinandersetzung um die Grimsel offenlegen. Ab 1986 war ich als Geschäftsführer der Naturfreunde Schweiz und als bernischer Grossrat gegen das damalige gigantische KWO-Projekt «Grimsel-West» stark engagiert.

Von Anfang an arbeitete ich mit dem 1987 gegründeten Grimselverein zusammen. Wir organisierten von Biologen geführte Naturfreunde-Exkursionen an die Grimsel. Ich kenne und verfolge seither die Projekte.

Das ursprüngliche KWO- Projekt «Super-Grimsel» war überrissen und mit über zwei Milliarden Franken Kosten wirtschaftlich nicht solid: Mit einer neuen Staumauer im Grimselsee wäre dessen Staukote um 120 Meter erhöht, der Unteraargletscher weitreichend abgeschmolzen und der Arvenwald und das Hochmoor an Sunnig Aar ertränkt worden.

Die oppositionellen Leute vom Grimselverein wurden in der Gemeinde Guttannen als Nestbeschmutzer, Querulanten und Aussenseiter beschimpft und geächtet. Einen SP-Grossrat, damals KWO-Angestellter, schickte man als Hetzer vor. Und im Hintergrund zog der KWO-Direktor Franz Benelli für sein Prestigeprojekt die Fäden.

Ich vermute, dass die damaligen Beschimpfungen und Demütigungen bei den Betroffenen nie verwunden worden sind und viel zum heutigen Widerstand des Grimselvereins erklären.

Wer in jungen Jahren traumatisch polarisiert wird, bringt das meistens nicht mehr weg. Dabei müssen die KWO aus heutiger Sicht dem Grimselverein dankbar sein, dass er diese «Super-Grimsel» letztlich verhindert hat, sonst hätten die Investoren später, ähnlich wie im Wallis, Hunderte von Millionen abschreiben müssen.

2002 wurde unter veränderten Verhältnissen und mit neuem KWO-Führungspersonal ein stark redimensioniertes Projekt «Grimsel plus» beantragt, das mit einer neuen Staumauer den Grimselsee um nur 23 Meter erhöht, aber wegen der V-Form des Tals 70 Prozent mehr Speicherkapazität ermöglicht.

Der Platz reicht hier nicht, um die seit 20 Jahren erfolgten Einsprachen, Prozesse, Rekurse – dreimal bis zum Bundesgericht – aufzuzählen. Wer diesen Spiessrutenlauf studiert, wird am Verzögerungsbeschwerderecht Zweifel bekommen. In diesem Sommer wird an der neuen Staumauer wieder gebaut, und sie wird wohl 2025 fertiggestellt.

Aber – es tönt wie ein schlechter Witz – deren Erhöhung um die 23 Meter soll erst später aufgebaut werden, wenn die Einspracheverfahren abgeschlossen sind.

Das Triftprojekt wurde erst 2013 aufgegleist, und die Umweltverbände und der Grimselverein wurden unter der Leitung von Regierungsrätin Barbara Egger von Anfang an beigezogen. Diese neue Staumauer mit einem See im öden Gletschervorfeld blockieren jetzt Aqua Viva und der Grimselverein mit Einsprachen.

Ich kenne Sunnig Aar von vielen Exkursionen. Ich weiss um die Arven über dem Grimselsee und das Hochmoor mit dem Scheuchzer’schen Wollgras, die vom bloss 23 Meter höheren Grimselsee kaum mehr beeinträchtigt wären.

Ich weiss auch um die Trift und das steinige Gletschervorfeld, auf dem jetzt erste Flechten und Pionierpflanzen wachsen. Dort den «Schutz der Biodiversität» zu bemühen, wird nicht verstanden und missbraucht den Begriff.

Nach der massiven Redimensionierung des Grimselsee- Ausbaus und angesichts der fundamental veränderten Stromversorgungslage haben die grossen nationalen Umweltverbände und viele ehemalige Grimsel-Gegner die Meinung geändert.

Auch ich empfehle die Unterstützung des Stromgesetzes und der späteren Verfahrensbeschleunigungsvorlage. Bei den Einsprachen geht es nur noch um verbandspolitische Profilierung. Für den Grimselverein kann man aus dessen Geschichte Verständnis aufbringen, für die anderen nicht.

Diese Pumpspeicherwerke sind in der neuen Energiestrategie unverzichtbar, denn mehr Strom aus Solarenergie und Wind erfordert mehr Wasserkraftspeicher zum Ausgleich von Sommer und Winter, von Tag und Nacht, von Schön- und Schlechtwetter!

Es schadet dem Naturschutz und dem Verbandsbeschwerderecht, wenn fundamentalistische Aussenseiter solche zentralen Projekte von nationaler Bedeutung so lange blockieren können.

Rudolf Strahm war Berner SP-Nationalrat und eidgenössischer Preisüberwacher. Er äussert sich als Gastkommentator regelmässig zum aktuellen politischen Geschehen.