Vom Umgang mit dem EU-Powerplay

Kolumne im Tagesanzeiger/Bund vom 04.12.2018

Die EU schadet mit ihrer Retorsionsmassnahme gegen den Finanzplatz Schweiz womöglich eher den EU-Konzernen.

«Ich habe wirklich genug davon, dauernd von Brüssel gepiesackt zu werden», rief ein genervter FDP-Ständerat letzte Woche in der Parlamentsdebatte. Beim angesprochenen «Gepiesacke» der EU-Kommission geht es um den angedrohten Entzug der Börsenäquivalenz. Von der EU sind wohl weitere Strafmassnahmen zu erwarten. In der heutigen Zeit gehören solche Feinheiten wieder zum Powerplay der Grossmächte zur Durchsetzung ihrer Interessen.

Wird der Schweizer Wertpapierbörse SIX die Äquivalenz, also die Gleichwertigkeitsbescheinigung, von der EU wieder entzogen, dann dürfen Finanzhändler aus der EU keine Aktien mehr an Schweizer Börsen kaufen und verkaufen. Die Androhung des Entzugs wurde vor einem Jahr von der EU-Präsidialdirektion von Jean-Claude Juncker ausgelöst. Zuvor hatte aber die zuständige EU-Fachbehörde die Gleichwertigkeit der SIX attestiert.

Damals ärgerte man sich darüber in der Schweiz bis hinauf zum Bundesrat furchtbar. In der Zwischenzeit hat sich auch in der Finanzwelt die Aufregung gelegt. Dies aus folgenden Gründen: An der SIX werden zwar über 60 Prozent des Wertpapierumsatzes von Händlern aus den EU-Staaten abgewickelt. Doch nur 20 Prozent des Handels stammen aus den EU-Ländern ohne Grossbritannien. Über 40 Prozent der Käufer/Verkäufer an der SIX sind Finanzintermediäre in London, das wegen des Brexits bald nicht mehr dem EU-Diktat unterstellt sein wird.

Der Bundesrat hat zudem für den Fall einer EU-Strafmassnahme – für einmal in vorausschauender Klugheit – eine wirksame, kompensierende Gegenmassnahme beschlossen: Wenn die EU ihren Börsianern den Handel an der SIX verbietet, wird ihr die Schweiz im Gegenzug das Recht entziehen, dass Schweizer Aktien an den EU-Börsen gehandelt werden. Damit wird der europäische Handel mit Schweizer Wertpapieren unter Ausnützung eines rechtlichen Schlupflochs in die Schweiz umgeleitet, und die SIX wird kaum Umsatz verlieren.

Alle von den Tamedia-Journalisten Holger Alich und Jorgos Brouzos befragten Schweizer Konzerne erklärten, dass sie ihre Kotierung (Börsenzulassung) in der Schweiz weiterführen und keinesfalls in die EU verlegen würden. Nach meiner Einschätzung schadet die EU mit ihrer Retorsionsmassnahme gegen den Finanzplatz Schweiz womöglich eher den EU-Konzernen, die nämlich auch unter den mächtigen asiatischen und institutionellen Fonds Investoren suchen.

Diese vorausschauende Schadensminderung für die Schweiz ist vom Eidgenössischen Finanzdepartement in monatelangen Konsultationen vorbereitet worden. Kein gewichtiger Akteur in der Finanzwelt hat seither den (vorläufigen) Entzug der Börsenäquivalenz als Schicksals- oder Überlebensfrage gebrandmarkt.

Wenn die Schweiz aus innenpolitischen Gründen – auf Stufe Bundesrat oder im Parlament oder durch die Volksabstimmung – das mit der EU ausgehandelte institutionelle Rahmenabkommen nicht akzeptieren kann, sind allerdings weitere Druckmittel oder Strafmassnahmen seitens der EU nicht auszuschliessen.

Wo und welche Sanktionsdrohungen gewählt werden, geht nach jenem Powerplay-Schema, das ein hoher Funktionär, der in der EU-Maschinerie heimisch war, so erläuterte: Beim betreffenden Länder-Desk in der EU-Bürokratie werden täglich die Zeitungen des anvisierten Landes ausgewertet. Die angedrohten Strafmassnahmen und die Droh-Rhetorik werden dann gezielt so gewählt, dass sie der dortigen Opposition nützen und der widerspenstigen Regierung am meisten wehtun.

Angesichts der unberechenbaren Sanktionsentscheide Brüssels ist deshalb ein vorausschauendes Handeln des Bundesrats nötig und schadensmindernd. Jede Einheit der Bundesverwaltung müsste jetzt Wenn-dann-Szenarien entwickeln. Der Bundesrat sollte Leadership zeigen und vorausschauend diesbezügliche Aufträge erteilen. Gouverner c’est prévoir – Regieren heisst vorsehen!

Wenn zum Beispiel, wie schon 2015, den Erasmus-Studenten ihr privilegiertes EU-Stipendium entzogen würde, braucht es ein vorbereitetes innerschweizerisches Kompensationsprogramm, das die bisher über die EU laufenden Mittel direkt den Studierenden zur Verfügung stellt.

Wenn wiederum, wie schon 2015, die formelle Forschungszusammenarbeit EU–Schweiz sistiert wird, müssen die betroffenen Schweizer Hochschulen womöglich direkt finanziert und bilaterale Kommunikationswege installiert werden. Das EU-Programm «Horizon 2020» hat mit seiner bürokratischen Struktur ohnehin nicht den Ruf, Exzellenz und Spitzenforschung zu betreiben.

Die Bundesverwaltung hat kürzlich mit politischer Absicht eine Liste mit allen denkbaren EU-Drohmassnahmen unter der Hand gestreut. Man würde von ihr eher erwarten, dass jeder Chefbeamte nun seine Hausaufgaben erfüllt und in seinem Fachbereich kluge Auffang- und Kompensationsmassnahmen vorbereitet.

Es ist sinnvoll, nun eine Pause einzulegen und den ausgehandelten Abkommenstext zu veröffentlichen, wie es alle Bundesratsparteipräsidenten und die Sozialpartner fordern. Die EU wird nach der Abwicklung des Brexit-Entscheids und nach den Europawahlen in einem Jahr anders aussehen. Und in der Schweiz wird eine intensive Debatte über den veröffentlichten Entwurf des Rahmenabkommens zunächst zwar eine gehässige Polarisierung auslösen, aber am Ende auch zu mehr Klugheit und einem akzeptablen Deal führen. So war es bei bisherigen Abkommen. Kommt Zeit, kommt Rat.

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