Aufstand von unten

Kolumne im Tagesanzeiger/Bund vom 27.12.2018

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Populismus. Bildungseliten und Regierungsestablishments haben sich zur heiligen Abwehrschlacht aufgemacht. Professoren und Literaten schreiben mit Büchern dagegen an. Journalisten reiben sich an ihm. Multinationale Konzerne sponsern – soweit es ihren Interessen dient – studentische Truppen gegen die Rechten.

Der Populismus zeigt Wirkung. Er lässt den Globalisierungsfilm rückwärtslaufen. Er stellt die EU-Erzählung vom «Friedensprojekt Europa» infrage. Aus dem Friedensprojekt ist in halb Europa ein Spaltprojekt geworden. Das Gespenst des Populismus ist längst identifiziert und personalisiert: Es heisst bei uns Blocher und Köppel. Oder es heisst, je nach Land, Le Pen, Gauland, Salvini, Kurz-Strache oder Orban. Und jenseits des Atlantiks hat es den Namen Trump.
Sie alle brechen Tabus, und sie sind es, so das Klischee, die das Volk aufwiegeln, rassistische Sentiments und niedere Instinkte mobilisieren und autoritäre Tendenzen aktivieren.

Was wir erleben, ist ein Aufstand von unten.

Haben sich aber ihre Gegner, die «politisch Korrekten», jemals gefragt, warum die Blocher, Le Pen, Gauland, Salvini oder Trump derart grosse Anhängerschaften mobilisieren können? Hat sich jemand je für die tieferen Motive ihrer Anhänger ­interessiert?

Man kann Trump als Charakterlumpen bezeichnen, aber er hat mit seinem demonstrativen Protektionismus – ökonomisch zwar zweifelhaft – den sozialen Zeitgeist richtig gedeutet, nämlich die Enttäuschung der Globalisierungsverlierer, die Ängste der Verdrängten. Er und all die Populistenhäuptlinge haben genau jene Tiefenmotive angesprochen, die die «politisch Korrekten» und das globalisierte Establishment vernachlässigt und ignoriert hatten.

Mein Fokus richtet sich hier gerade nicht auf die Populistenführer. Es gibt genug Journalisten und Intellektuelle, die sich an ihnen reiben. Vielmehr interessieren mich die Anhänger. Was wir erleben, ist ein Aufstand von unten. Man muss nach drei Tiefenschichten von Aufstandsmotiven graben.

Und da ist ein noch tiefer liegendes Motiv: die Identitätsfrage.

Da ist erstens die Abwehr gegen die Migration. Manche Menschen denken langfristiger als das Establishment und seine Berufsdenker. Sie fragen sich besorgt, wie unsere Gesellschaft in 20, 50 oder 100 Jahren aussieht, wenn die Zuwanderung aus dem arabischen Raum und aus Afrika unvermindert weitergeht. Der idealistische Multikulturalismus ist bezügliche der langfristigen Migrationsfolgen ein Realitätsverweigerer.

Da sind zweitens die Abstiegsängste der unteren Mittelschichten im ­Zeichen der Globalisierung und technologischen Revolution. Bildungs­eliten in sicheren Staatspfründen und Hochschulen können deren existenzielle Besorgnisse nicht nachempfinden. Besitzstandsängste nähren den Populismus. Immigration und Personenfreizügigkeit verdrängen nicht nur die Unbemittelten, sondern auch 50-jährige Kader, Ingenieure, traditionelle Leistungsträger. Unter den ­50- bis 65-Jährigen findet sich am meisten Abwehr gegen die Migration. Schäbig, sie einfach als Fremdenfeinde oder gar Rassisten auszugrenzen. Das verursacht Wut und Wunden.

Und da ist drittens ein noch tiefer liegendes Motiv: die Identitätsfrage. Die Frage, mit wem kann ich mich identifizieren, wem kann ich vertrauen? Die Entfremdung fängt an mit der elitären, akademisierten Sprache der Eliten, die man nicht versteht. Der politische Mainstream dreht sich um Flüchtlinge, Genderfragen, sexuelle Minderheiten. Die hart arbeitenden Menschen in den Vorstadt-Hoch­häusern und im Hinterland fühlen sich vernachlässigt.

Polarisieren und die anderen verletzen tun beide

«Migration ist der stärkste Faktor der Identitätsverluste», sagte kürzlich der amerikanische Politwissenschaftler und Autor Francis Fukuyama. Genau solcher Identitätsverlust ist der Hauptfaktor für das historisch ­dramatische Einbrechen der elitär gewordenen Sozialdemokratie in ganz Europa.

Beide Lager dieser populistischen Revolte sind in ihren ideologischen Blasen gefangen. Die linke Soziologin Franziska Schutzbach (Kampfschrift: «Rhetorik der Rechten») und der ultrarechte Politiker Roger Köppel aktivieren etwa gleich viele Ressentiments. Beide bedienen ihre Gläubigen mit ideologischen Kampfparolen und beide sind auf ihre Art grandiose Realitätsverweigerer. Mit dem Unterschied, dass die Soziologin ihren akademischen Nimbus beansprucht und so die Leser der Feuilletons betört. Polarisieren und die anderen verletzen tun beide.

Mehr ­analytische Selbstreflektion

Intellektuelle und Journalisten merken in ihrer Blase meist nicht, dass sie mit ihrer ständigen Abstempelung als ­Rassisten, Abschotter, Isolationisten, Nationalisten die konservativen, weniger Sprachgewandten nachhaltig verletzen. Und diese damit dem Rechtspopulismus in die Arme treiben.

Das Streben nach Würde in der ­eigenen Identität und nach nationaler Souveränität lässt sich nicht mit Publikumsbeschimpfung und Ausgrenzung beseitigen.

Wir brauchten in Zukunft mehr ­analytische Selbstreflektion über die Motive der konservativen Wähler. ­Wir sollten im neuen Jahr weniger auf die verfemten Populistenführer starren, sondern ihre Anhänger ernst nehmen.

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