Versorgung mit Medikamenten ist systemrelevant – der Bund muss handeln

Kolumne von Rudolf Strahm  in TA-Online und TA-Media 24. 1. 2023

Hilflose Appelle führen direkt ins Desaster: Wenn Novartis seine Generikatochter Sandoz verscherbeln will, darf dies nicht dem freien Markt überlassen werden.

Bisher traf es vor allem die Spitäler. Nun erreichen sie auch den ambulanten Bereich bei Hausärzten und in Apotheken. Die Rede ist von den Liefer- und Versorgungsengpässen bei den Medikamenten. Was vor 2020 niemand für denkbar gehalten hätte, wird heute bedrohlich für das landesweite Gesundheitssystem.

Die Lieferschwierigkeiten betreffen nicht primär die hochpreisigen patentierten Spitzenmedikamente und seltenen Biosimilars, sondern Generika für die tägliche Massenversorgung der Bevölkerung mit Kindermedikamenten, Blutdruck- und Cholesterinsenkern, Antiepileptika, Parkinsontherapien, Fiebersenkern und vor allem mit lebenswichtigen Antibiotika, die rund die Hälfte aller akuten ärztlichen Verschreibungen ausmachen. 

Das für die Versorgungssicherheit zuständige Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) publizierte vor zwei Wochen eine achtseitige Liste von offiziell gemeldeten Versorgungsengpässen oder Lieferstopps für 118 lebenswichtige Medikamente. Die hauptsächlich von Spitalapothekern publizierte, inoffizielle Mangelliste www.drugshortage.ch enthält sogar 764 nicht lieferbare Medikamente und Produktdosierungen. Der Spital-Chefapotheker und Vizepräsident des Apothekerverbands, Enea Martinelli, schlägt seit Wochen Alarm.

Die Illusion eines Medikamentenmarkts

Doch das passive BWL begnügte sich am 10. Januar bloss mit einem hilflosen Appell an alle Gesundheitsinstitutionen, die Medikamente nicht auf Vorrat zu bestellen, um die Lieferengpässe nicht zu vergrössern. Die im BWL für die Medikamentenversorgung zuständige Führungsperson repetiert die alte Litanei, der Medikamentenmarkt sei ein Markt; Wettbewerbsverzerrungen seien zu vermeiden; und im Übrigen seien vorab die Kantone zuständig. Das Landesversorgungsgesetz (LVG) mit seinen vielen Bundeskompetenzen, das explizit auch die Heilmittelversorgung einschliesst, reicht viel weiter.

Nun zeichnet sich in diesem Jahr ein zusätzliches Versorgungsdesaster mit der Medikamentenfirma Sandoz ab. Die hoch rentable und wachsende Firma Sandoz, die 1995 mit Ciba-Geigy zu Novartis fusioniert wurde, soll in diesem Jahr als Konzern wieder verselbstständigt und an der Börse an die meistbietenden Investoren verscherbelt werden. Der Druck dazu kommt vor allem durch drei Hedgefonds, die den Novartis-Verwaltungsrat vor sich hertreiben und mittels Aktienrückkäufen Wertsteigerungen einfordern.

Sandoz bündelt alle Generikaproduktionen im Novartis-Konzern. Sie ist damit die grösste Generikaherstellerin in Europa und weltweit die grösste Antibiotikaproduzentin. Penicillin zum Beispiel wird nur noch von Sandoz hergestellt. 

Sandoz ist zwar etwas weniger rentabel als andere Novartis-Sparten, aber mit 15 bis 20 Prozent Marge immer noch sehr ertragreich. Das Potenzial von Generika nimmt wegen des Ablaufs des Patentschutzes jährlich zu. Unter dem Preisdruck, der von der Konkurrenz und von den Behörden (auch den schweizerischen) ausgeht, wurden immer mehr Zwischenprodukte und sogar Wirkstoffe aus China, Indien und Bangladesh bezogen. Damit wird die Versorgung wegen der bekannten Lieferkettenprobleme wegen Engpässen in Asien zunehmend zum Risiko. 

Die Börsenspezialisten sagen drei mögliche Szenarien für Sandoz voraus: Sandoz könnte wie schon die Mepha vom weltgrössten Generikakonzern, der israelischen Teva, gekauft und selektiv einverleibt werden. Sandoz könnte zweitens von mächtigen asiatischen Wirkstoff- oder Zwischenproduktlieferanten aufgekauft werden, die damit ihre Lieferkette im Sinne der Seidenstrasse-Strategie bis zum Endmarkt ausdehnen würden. Oder drittens, Sandoz könnte von aktivistischen Hedgefonds übernommen, danach in Einzelfirmen zerlegt und einzeln rentabel verscherbelt werden, wie dies schon andere Konzerne erleiden mussten. Das schweizerische Aktienrecht lässt ungeachtet der nationalen Versorgungssicherung alle diese Killerstrategien an der Börse zu! 

Alternative Vorgehensweise wäre möglich

Was liesse sich tun? Denkbar wäre, dass – wie auch schon bei andern Börsengängen praktiziert – mit potenten, glaubwürdigen Investoren diskret verhandelt wird, welche die Firma Sandoz als industrielle Ankerinvestoren langfristig fortführen wollen. Als solche kämen etwa Pensionskassenverbünde, Versicherungen oder öffentlich-rechtliche Investoren infrage. Denkbar, wenn auch heikler wären zudem Beteiligungen von grossen Krankenversicherungen (die sich indes im Dauerstreit zwischen den Dachverbänden Santésuisse und Curafutura verausgaben). 

Und der Bund und die Kantonsbehörden? Warum könnten nicht der Volkswirtschaftsminister oder der Präsident der kantonalen Gesundheitsdirektoren diskret beim Novartis-Verwaltungsrat ihre Beziehungen spielen lassen? Jedenfalls ist beiden bekannt, dass Sandoz am Abgrund wankt!

Das Parlament drängte den Bundesrat schon 2020 mit einem Investitionskontrollgesetz («Lex China»), ausländische Käufe von systemrelevanten Firmen zu kontrollieren. Bis jetzt widersetzte sich allerdings das dem Wirtschafts- und Bildungsdepartement unterstellte Seco aus «ordnungspolitischen» (sprich ideologischen) Gründen vehement einer solchen staatlichen Rolle. Für das Seco ist «Industriepolitik» auch nach der schmerzlichen Corona-Erfahrung immer noch ein Schimpfwort.

Deutschland ist daran, seine Versorgungssicherheit für den Medikamentenbedarf mit einer Vorsorgestrategie abzusichern, zum Beispiel durch Rückführung von Herstellungsprozessen nach Europa, durch eine diversifizierende Ausschreibungspraxis und durch Preiserhöhungen um bis zu 50 Prozent.  

Gleiche Fehler wie während Corona

Ich war in der Preisüberwachung auch zuständig für die Medikamentenpreisbeurteilung und kenne den Pharmamarkt. Ich habe jetzt viele Akteure konsultiert. Dabei konstatiere ich eine ähnliche Problemverdrängung in der Bundesverwaltung wie zu Beginn der Corona-Epidemie, als das BWL, das BAG und die Kantone sich gegenseitig die Verantwortung für die fehlenden Masken, Desinfektionsmittel und unbrauchbare Notfallpläne zuschoben – und dabei die Führungsverantwortung der Kakofonie einer selbst ernannten Taskforce überliessen. Der anfängliche Führungsmangel durch den Bund kam nachher teuer zu stehen.

Nun zeichnet sich bei der Medikamentengrundversorgung ein vergleichbares Desaster ab. Die Medikamentenversorgung wird zunehmend systemrelevant und kann nicht dem freien Markt überlassen werden! Hoffentlich reagiert der Bund bald mit einer vorausschauenden Vorsorgestrategie. Deren Unterlassung wird sonst das Gesundheitssystem noch mehr verteuern.

Publiziert in TA-Online 24. 1. 2023   –  Gekürzte Fassung in Tages-Anzeiger und Bund  24.1.2023