Strombranche ist systemrelevant und muss reguliert werden

Letzte Kolumne von Rudolf Strahm in TA-Media vom 14- 2. 2023

(Hier vollständig wiedergegeben. Inklusive Kürzung durch Redaktion gegen den Willen des Autors, siehe PS am Ende des Artikels)

Swissgrid und Stromhandelskonzerne lobbyieren für die Liberalisierung des Strommarkts. Dabei verschweigen sie ihre versteckte Agenda.

Wir werden in den nächsten Jahren eine Kaskade von Volksabstimmungen zur Strompolitik erleben. Am 18. Juni 2023 geht es um das Klimaschutzgesetz, das hoffentlich durchkommt. Danach wird es wohl weitere Volksentscheide geben, etwa zur Sicherung der Wasserkraftreserven, zur Beschleunigung der Bewilligungsverfahren und wiederum zur Atomkraft-Technologie.

Im Hintergrund aber steht als übergreifendes Thema ein Elefant im Raum, nämlich die weitere Strommarktliberalisierung. Die Stromhändler üben dafür Druck aus und verstärkten ihr Lobbying. Den Schaden für den liberalisierten Strombezug mussten bisher jene Unternehmen und kommunalen Versorgungsnetze ohne Eigenproduktion erfahren, die auf dem «freien» Strommarkt einkauften. Sie und ihre Kunden sind mit einer Verdoppelung oder Verdreifachung ihrer Stromrechnung abgestraft worden. Demgegenüber sind die Stromkonsumenten in der Grundversorgung zum Beispiel bei den BKW fast ohne Preiserhöhung ausgekommen. Die KMU und der Gewerbeverband möchten jetzt wieder zur Grundversorgung mit festen Preisen zurückkehren.

Aufgrund meiner früheren Kolumnen suchte die oberste Leitung der Axpo kürzlich das Gespräch mit mir. Es ging um Strommarktliberalisierung, Spekulationsgewinne und den Rettungsschirm als Staatskrücke. Was ich von der Aussprache mitgenommen habe, ist die Langfristsorge der Axpo-Geschäftsleitung, dass in den nächsten zwei Jahrzehnten ihre Bilanz schrumpfen wird. Nicht nur durch die Stilllegung der alten AKW, sondern weil nach Ablauf der Wassernutzungskonzessionen die Kraftwerke zurück an die Konzessionskantone respektive die Gemeinden fallen. Diese wollen in Zukunft die lukrative Stromproduktion selber vermarkten.

Die Axpo-Leitung sucht deshalb den Ausweg in Richtung mehr spekulativer Handelsgeschäfte mit Strom, Gas und Rohstoffen. Für ihre Sorge kann man Verständnis aufbringen – aber für den gewählten Ausweg definitiv nicht. Es gäbe sicherere Wege zur Bewältigung des Strukturwandels. Die BKW zum Beispiel hat sich in die Lieferkette als Strom-Generalunternehmerin eingenistet, indem sie Elektroinstallationsgeschäfte ohne Nachfolgeregelung übernimmt oder neue gründet. Dieses nicht gewerbliche Businessmodell verspricht aber stabile Erträge.

«Die schweizerische Stromproduktion muss prioritär der Grundversorgung zu festen Preisen im Lande dienen.»

Derzeit führt Swissgrid, die Gesellschaft der Hochspannungsnetze, ein aggressives Lobbying bei Redaktoren und Politikern für die vollständige Strommarktliberalisierung und für ein Stromabkommen mit der EU. Mit hypothetischen Zukunftsszenarien droht sie mit einen Stromkollaps. Die weitere Stromhandelsliberalisierung sei unverzichtbar. Swissgrid und Stromhandelskonzerne verschweigen aber ihre versteckte Agenda: Sie verdienen massiv am Stromhandel, denn das Hin und Her der Stromhandelsflüsse bringt explodierende Netznutzungsentgelte für die Netzbetreiber. Mehr als die Hälfte des Strompreises an der Steckdose besteht heute aus kumulierten Netzdurchleitungskosten.

Das Stromabkommen mit der EU würde fundamentale Änderungen erfordern: erstens eine vollständige Liberalisierung des Strommarktes bis hin zu den Haushalten. Die Grundversorgung mit festen Preisen würde dahinfallen. Zweitens müsste die Schweiz ab 2025 im europäischen Krisenfall 70 Prozent ihrer Stromreserven für den europäischen Bedarf freigeben. Und drittens würde das Recht zum spekulativen Stromterminhandel mit den erlebten Preisexzessen an der Börse verankert. Es ist aber denkbar, dass nach fundamentalen Korrekturen in der EU ein Stromabkommen wieder diskutabel würde. 

Vor der Gründung der Aufsichtsbehörde Elcom war die Preisüberwachung für die Strompreisgestaltung zuständig. Meine Erfahrungen bei dieser Aufsicht: Die Stromhändler und Netzanbieter, die als selbstbewusste Fachleute den Ton angeben, darf man nicht zum alleinigen Massstab nehmen. Sie vertreten ihre eigenen Geschäftsinteressen vor der Landesversorgung! 

Die schweizerische Stromproduktion muss prioritär der Grundversorgung zu festen Preisen im Lande dienen. Die Knacknuss bleibt vorläufig die Winterstromlücke. Zur Deckung braucht es weitere Investitionen in Wasserspeicher- und alpine Solarkraftwerke. Und vorübergehend müssen die bereits installierten Zusatzaggregate für Winterstrom erhalten bleiben. Die Strombranche ist hochgradig systemrelevant. Sie muss im Landesinteresse stärker reguliert werden. Die Erfahrung lehrt uns: Wenn man den Strom der Logik des liberalisierten Marktes überlässt, schadet das der ganzen Volkswirtschaft! 

Das ist nach vierzehn Jahren meine letzte Kolumne. Sie endet nicht freiwillig. Die neue Chefredaktion des Tages-Anzeigers will die Beiträge neu ausrichten. Ich habe mit meinen Kolumnen gern zur Einordnung der Politik beigetragen. Mit Analysen aus einer gewissen Distanz, Unabhängigkeit und Weitsicht habe ich mich an jene Generation gewandt, die noch Zeitung liest und politisch reflektiert. Dabei habe ich versucht, dem Motto «Audiatur et altera pars» – Höre auch den andern – gerecht zu werden. Allen Leserinnen und Lesern danke ich für das Interesse an meinen Beiträgen. – Rudolf Strahm

PS. Diese Abschiedsbemerkung wurde in den Print-Versionen im Tages-Anzeiger und im Bund gegen meinem Willen gänzlich weggelassen und hier, in der Online-Version, um den fett gedruckten Abschnitt ohne Voranmeldung gekürzt. R.S.