Für die Konzernverantwortungsinitiative läuft jetzt der Countdown
(Dies ist eine ursprüngliche, erweiterte Fassung der Kolumne von Rudolf Strahm in TA-Media vom 19. Mai 2020.)
Wer Quartiere oder Dörfer durchstreift, kann sie kaum übersehen, diese orangefarbenen Spruchbänder mit dem Aufruf „Konzernverantwortungsinitiative Ja!“ Mittlerweile sind über 45‘000 Balkone und Fenster mit diesem Aushang geschmückt, als ob die Volksabstimmung schon bevorstünde. So weit ist es noch nicht.
Doch nun läuft der Countdown. Anfang Juni werden die Würfel im Parlament mit einer Einigungskonferenz zwischen National- und Ständerat die Würfel fallen. Zuvor ist die Vorlage nun schon zweieinhalb Jahre mit Ticks und Tricks hin- und hergeschoben worden. Zuletzt erzwang auch der coronabedingte Parlaments-Stillstand drei Monate Aufschub.
Derweil reisst die Serie von Konzernskandalen und Schlagzeilen über internationale Rohstofffirmen mit Schweizer Sitz nicht ab. Der weltgrösste Rohstoffkonzern Glencore, mit Sitz in Zug, verursachte jüngst grosses Leid bei der Bevölkerung des Tschad. In der Nähe ihres dortigen Ölförderfelds überschwemmte eine Glencore-Tochterfirma die Landschaft mit der Giftbrühe aus einem überlaufenden Auffangbecken (Bericht der Sonntags-Zeitung vom 15.3.2020).
Die Kolmar-Gruppe mit Sitz in Zug geschäftete gemäss Berichten mit einem Schmuggelring und erhielt so aus dem Bürgerkriegs-Libyen mindestens 50‘000 Tonnen Diesel Die Hintermänner stehen derzeit in Italien vor Gericht, was grosse Schlagzeilen über die Zuger Firma auslöste.
Die Glencore-Mine Cerro de Pasco in Peru verursachte Schwermetallvergiftungen mit schweren Schäden an Menschen und Umwelt. Nachdem der Giftskandal aufflog, verkaufte Glencore flugs ihre Minen-Betreiberfirma Volcan und stahl sich aus der Haftung. Das führte zu weltweiten Schlagzeilen über den Schweizer Konzern.
So geht es Monat für Monat. Und fast immer sind Sitzgesellschaften aus der Schweiz mitbeteiligt. Rund 24‘000 internationale Holding- und Domizilgesellschaften operieren weltweit von der Schweiz aus, worunter auch 500 Rohstoff- und Oelfirmen, die zum Teil zwielichtigen russischen, kasachischen und arabischen Oligarchen gehören. Sie nutzen das „Soft Law“ der Schweiz, die schwache Gesetzgebung, die praktisch keine Sorgfaltspflicht und keine Haftung für die Schäden der Konzern-Töchter im Ausland vorschreibt.
Ein Image-Monitor von Präsenz Schweiz in Deutschland, Frankreich, Grossbritannien und Italien attestiert der Schweizer Wirtschaft insgesamt gute Verhaltensnoten, allerdings mit Ausnahme des Faktors „Unternehmensverantwortung“. In diesem Punkt gibt es einen markanten Einbruch der Reputation. Es sind nicht die eingesessenen Schweizer Konzerne, sondern jene ausländisch beherrschten Sitzgesellschaften, die den Imageschaden fürs Land herbeiführen.
Zurück zu den orangefarbenen Balkonfahnen. Seit über einem Jahr wartet die NGO-Szene auf die Weichenstellung, ob eine Volksabstimmung zur Konzernverantwortungs-Initiative stattfinden oder ob das Parlament den wirksamen Gegenvorschlag des Nationalrats auf Gesetzesstufe zustande bringt. Die Annahme dieses Gegenvorschlags würde einen Initiativ-Rückzug und natürlich eine raschere Umsetzung der Haftung ermöglichen.
Dieser Gegenvorschlag ist vom SVP-Nationalrat und Rechtsprofessor Hans-Ueli Vogt und vom CVP-Nationalrat und Rechtsanwalt Karl Vogler ausgearbeitet und seither im parlamentarischen Hin und Her vom Nationalrat dreimal angenommen worden. Dabei hat ihn die CVP-Fraktion anfänglich fast einhellig unterstützt.
Dieser Gegenvorschlag auf Gesetzesstufe konkretisiert die Sorgfaltspflicht für Konzerne nach internationalen Standards und schränkt die Haftung ein auf Unternehmen, die durch die Mutterfirma direkt kontrolliert werden. Für Drittfirmen und Lieferanten wird sie ausgeschlossen. Die Haftung wird rechtsklar auf Schäden an Leib, Leben und Eigentum begrenzt. Der Verweis der Gegner auf eine drohende Klagekaskade ist deshalb schlicht unbegründet.
Nach einer gewaltigen Lobbywalze durch die Multinationalen Konzerne, inszeniert von Economiesuisse und Swissholdings, trat der Ständerat auf Antrag von Rudolf Noser auch beim zweiten Anlauf nicht auf diese ausgewogene Kompromissvariante des Nationalrats ein. In einem unüblichen und undurchsichtigen Manöver mischte sich das EJPD unter Bundesrätin Karin Keller-Suter in den Parlamentsprozess ein und plötzlich wurde für die Dezember-Session 2019 ein Gegen-Gegenvorschlag (!) aus dem Hut gezaubert und im Ständerat angenommen, der als Alibi nur dazu diente, die substanzielle Kompromisslösung des Nationalrats zu verhindern.
Dieser Alibi-Gegenvorschlag will nichts von einer Haftung wissen und bringt kaum eine Verhaltensänderung der Konzerne. Er verpflichtet die Firmen bloss auf ein Sorgfaltspflicht-Reporting, das sie selber durchführen und niemand überprüft. Er bringt faktisch die Pflicht, dass die Rohstoffkonzerne ihr Image mit Hilfe von PR-Berichten aufpolieren und die Taten ihrer Tochtergesellschaften in Entwicklungsländern selber rechtfertigen Also, Verpflichtung zur Weisswäscherei statt Haftung für Schäden an armen Menschen.
Was bei uns sämtliche Unternehmer im Inland leisten müssen, nämlich eine volle Haftung für ihre Tochterfirmen, soll für die multinationalen Grosskonzerne und ihren Auslandfilialen weiterhin nicht gelten! Das ist die Moral der Version von Karin Keller-Sutter (FDP).
Der erzkonservative Walliser CVP-Ständerat Beat Rieder liess sich für diesen Alibi-Gegenvorschlag aus dem EJPD einspannen. Rieder übt in der CVP-Fraktion neu einen starken, konservativ-reaktionären Einfluss aus. Die Ständeräte um den Bündner CVP-Ständerat Stefan Engler dagegen bleiben auf der Linie des Nationalrats. Das Schicksal der Vorlage wird im Parlament nun definitiv von der CVP bestimmt. Wird sie die bisherige kompromissorientierte Mitteposition beibehalten oder wird sich der konservative grosskonzernhörige Flügel durchsetzen?
Bald wird die EU die Schweizer Firmen, die auch im EU-Raum operieren, mit ihrer Konzernhaftung unter Druck setzen. Der EU-Justizkommissar Didier Reynders versicherte letzten Monat vor dem EU-Parlament, die EU werde bis Anfang 2021 „die Konzern-Verantwortlichkeit bei menschlichen oder ökologischen Schädigungen ausweiten“ und für alle eine Sanktionierung mit einer zivilrechtlichen Haftung durchsetzen. Bundesrätin Keller-Sutter, die stets auf eine EU-kompatible Lösung in Aussicht gestellt hatte, wird sich in einem Jahr für ihre unverständliche Fehlbeurteilung rechtfertigen müssen.
Derzeit unterstützen 120 NGO die Konzernverantwortungsinitiative, die ihrerseits weit über eine Million Bürger und Spender per Internet und Social Media erreichen. 350 Lokalkomitees aus Freiwilligen bereiten sich auf den Abstimmungskampf vor. Ein Komitee mit 180 bürgerlichen Politikern, ein Wirtschaftskomitee mit 180 Unternehmern, die Spitzen der Landeskirchen und der Freikirchen unterstützen die Initiative. Noch nie in der Geschichte haben sich so viele zivilgesellschaftliche Organisationen für eine Initiative zusammen gefunden. Noch nie hatten so viele mittelständische bürgerliche Kreise und Unternehmergruppen eine Initiative mitgetragen.
In der Romandie gibt es ein „Groupement des Entreprises Multinationales“ mit 95 Unternehmen, in der Deutschen Schweiz neu auch die IG Detailhandel, der Verband Handel Schweiz und weitere Handelsorganisationen mittelständischer Unternehmen. Sie unterstützen nicht die Initiative, sondern explizit den Gegenvorschlag des Nationalrats. Jüngst hat sich auch der Verband der Nahrungsmittel-Industrien FIAL für den Gegenvorschlag des Nationalrats ausgesprochen. Sie wollen verhindern, dass ausländisch beherrschte Sitzgesellschaften weiterhin den Ruf der Schweiz beschädigen. Für diese Firmen gilt, wie sie in einem Prospekt sagen: „Konzernverantwortung ist eine Selbstverständlichkeit“
Auf der andern Seite rüstet sich Economiesuisse für die Gegenkampagne, die sie von der Kommunikationsagentur furrerhugi Bern durchführen lassen will. Dem Vernehmen nach werden 8 Millionen Franken eingesetzt.
Es kommt mir vor, wie früher beim Bankgeheimnis. Eine herrschende Gruppe verteidigte jahrzehntelang lernunfähig und taub das Steuerfluchtsystem, bis es mit einem Schlag implodierte. Keiner dieser Protagonisten hat je die Verantwortung für diesen Reputationsschaden der Schweiz übernehmen müssen.
Falls der austarierte Gegenvorschlag des Nationalrats in zwei Wochen abstürzt, wird die Volksabstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative im November stattfinden. Die CVP-Fraktion unterstützte anfänglich den substanziellen Gegenvorschlag auf Gesetzesstufe vom Nationalrat. Das Schicksal der Vorlage hängt nun definitiv von der CVP ab. Wird sie die bisherige kompromissorientierte Mitteposition beibehalten – oder wird sich der konzernhörige konservative Flügel mit Rieder durchsetzen?