Die Corona-Krise wird dieses Jahr in der Bundeskasse ein Defizit von 30 bis 40 Milliarden Franken verursachen. Bei den Kantonen und Städten sind es weitere Defizitmilliarden.
Dem defizitär gewordenen Staat steht die milliardenschwere Schweizerische Nationalbank SNB gegenüber. Bei ihr sind jetzt gigantische 800 Milliarden Franken Vermögen als Währungsreserven gebunkert. Diese sind in Wertpapieren von ausländischen Staatsanleihen und Aktien investiert und werfen der Nationalbank jährlich Milliardengewinne aus Zinserträgen und Dividenden ab – letztes Jahr waren es 16 Milliarden Franken.
Anfang dieses Jahres waren aus diesen Kapitalerträgen rund 80 Milliarden Franken in der sogenannten Gewinnausschüttungsreserve aufgelaufen. Um Kritikern gegen diese paradoxe Situation zuvorzukommen, bot das dreiköpfige SNB-Direktorium an, dieses Jahr dem Staat 4 statt 2 Milliarden Gewinn auszuschütten. Ein Drittel bekommt der Bund (1,3 Mrd) und zwei Drittel gehen an die Kantone.
Diese Diskrepanz führte zur zunehmenden Kritik an der ängstlichen Batzenklemmer-Mentalität der Nationalbank-Leitung. Heute wird breit, von links bis rechts auch im Parlament, eine Revision der Gewinnausschüttungspraxis gefordert. Denn der Reingewinn der Nationalbank gehört laut Verfassung dem Volk, also den Kantonen und dem Bund.
Bevor wir uns auf die schwierige und komplexe Problematik der Nationalbank-Bilanz einlassen, muss allerdings gewarnt werden. In keinem andern Gebiet der Nationalökonomie geistert so viel Ideologie und Sektierertum, wie in der Notenbank-Politik. Da wurde schon eine „Gold-Volldeckung“ des Notenumlaufs gefordert; kürzlich ein „Nationalbank-Vollgeld“ mit ausschliesslichen Notenbankkrediten; weiter ein „Helikoptergeld“ zur Verteilung an die Haushalte. Wiederum andere verstiegen sich in den Vorwurf der „Falschmünzerei“ bei einer Ausdehnung der Notenbankbilanz, andere operierten mit „Inflationsparanoia“, mit krankhafter Angst vor der Hyperinflation. Sodann gab und gibt es auch jegliche Anhänger von Unabhängigkeitsdogmen mit geistiger Achtungsstellung vor der gerade aktuellen Nationalbank-Doktrin. Auch die widersprüchlichen Wunschlisten für die Verwendung der Nationalbank-Gewinne – etwa zugunsten von Klimaschutz, Altersvorsorge, Infrastruktur, Steuererlassen oder Schuldentilgung – blockieren jede Reformdiskussion.
Jenseits von Ideologien und Interessen
Konzentrieren wir uns jenseits dieser Ideologien und Interessen auf die Gewinnausschüttungspraxis der heutigen Nationalbank-Leitung. Bundesrat und Finanzminister Ueli Maurer hat als erster ohne Rücksprache mit der Nationalbank das Tabu mit seiner Anregung gebrochen, den Bundesanteil aus dem Nationalbank-Gewinn für die Tilgung der Corona-Schulden zu binden. Viele Ökonomen stützen heute das Grundanliegen einer grundlegenden Revision der Gewinnausschüttungspraxis. Dagegen wehrt sich das Direktorium der Nationalbank. Es erhält auch ständig Unterstützung bei der in der währungspolitischen Orthodoxie stecken geblieben Wirtschaftsredaktion der NZZ:
Die Ökonomieprofessoren Jan-Egbert Sturm von der KOF-ETH und Daniel Kaufmann von der Uni Neuenburg hatten den Mut, in Missachtung der geistigen Achtungsstellung die Gewinnreserven der Nationalbank zur Schuldentilgung einzufordern. Der St.Galler Professor Reto Föllmi rechnete vor, bei einem 2%-Kapitalertrag könne die SNB jährlich mit 15 Milliarden Gewinn rechnen. (Allerdings will der Professor diese Gewinnauszahlung durch Senkung der Gewinn- und Einkommenssteuern an die Reichsten verschenken. Damit blockiert statt ermöglicht der die Diskussion.)
Unabhängig von der Parteifarbe zeichnet sich ein gewisser Konsens ab, dass bezüglich der Gewinnpraxis der Nationalbank ein Reformpotential herrscht. In der Bundesverwaltung spricht man davon, dass von der SNB heute eine jährliche Gewinnausschüttung in einer Grössenordnung von 10 Milliarden Franken realistisch sei. Dieser Meinungsumschwung wird allerdings weder von der Nationalbank und ihren Zugewandten noch von der NZZ-Wirtschaftsredaktion geteilt, die die Orthodoxie des 1980er Monetarismus unverrückbar aufrecht hält.
Beinahe-Konsensthemen in Sicht
Ich nenne hier einige Konsenspunkte, die sich heute ausserhalb der Nationalbank und ihrer Zugewandten abzeichnen.
Erstens muss die Gewinnausschüttungspraxis reformiert werden. Der heutige Begriff der Gewinnausschüttungsreserve ist missverständlich. Denn dieser Topf wird nämlich nicht nur mit den Kapitalerträgen (oder Teilen davon) aus dem Nationalbank-Vermögen geäuffnet, sondern das Direktorium belastet jeweils nach eigenem Ermessen anfallende Buchverluste auf Währungsreserven auch diesem Fonds. Dies geht dann zulasten von Bund und Kantonen.
Es braucht eine klare Trennung von realem Gewinn im Sinne von Kapitalerträgen (diese gehören dem Staat) und von Buchgewinn/Buchverlusten aus Wertschwankungen. Es braucht also einen transparenten Gewinnausschüttungsfonds und separat einen Rückstellungsfond für Wertschwankungen. Diese jedem Buchhalter einleuchtende Forderung nach Trennung von realem Gewinn und Buchgewinnen stand schon 2001 bei der Nationalbankgesetz-Revision zur Diskussion. Schon damals wehrte sich das Nationalbank-Direktorium erfolgreich gegen mehr Transparenz in der Bilanzgestaltung.
Zweitens braucht es endlich eine regelbasierte, verstetigte Gewinnausschüttungspraxis. Immer noch erleben wir das demokratiepolitisch unrühmliche Spiel, dass die Gewinnausschüttung der Nationalbank jeweils ad hoc und ohne Regel zwischen dem SNB-Direktorium und dem Finanzdepartement mit einem Mehrjahres-Deal ausgejasst werden muss. Denkbar ist zum Beispiel eine Regelung, dass 80% der jährlichen SNB-Kapitalerträge (also Zinsen, Dividenden und natürlich auch die Erträge aus Negativzinsen) in einen dreijährig geglätteten Ausschüttungsfonds zuhanden von Bund und Kantonen übertragen werden. Eine mittlere jährliche Gewinnausschüttung in der Grössenordnung von 10 Milliarden Franken ist durchaus realistisch.
Man muss auch klären, ob die Erträge aus Negativzinsen, die den Sozialversicherungen belastet werden, diesen gleich direkt zurückerstattet werden. (Ökonomisch ist dies gerechtfertigt, denn dieses Kapital aus der Schweiz verhält sich ja bei Anlagen in der Schweiz wechselkursneutral.)
Ein dritter Konsenspunkt betrifft die Art und Weise der Anlagepolitik für das immense Nationalbank-Vermögen, das mittlerweile das schweizerische Bruttoinlandprodukt übersteigt. Es gibt weltweit keine öffentliche Institution, in der ein derartiger Kapitalblock von nur drei Personen verantwortlich verwaltet wird. Es braucht ein Anlagekomitee aus externen, unabhängigen Fachexperten (nicht Politikern), die vom Bankrat oder vom Bundesrat ernannt werden und diesen gegenüber verantwortlich sind. Einige möchten noch weiter gehen und einen Teil des Nationalbank-Vermögens in einen Staatsfonds auslagern. Dafür besteht allerdings heute bei uns kein Konsens. Klare Gewinnausschüttungsregeln würden indes den Anliegen der Staatsfonds-Anhänger entgegenkommen.
Ein vierter Diskussionspunkt betrifft die Governance-Frage der Nationalbank-Führungsgremien mit einem dreiköpfigen Direktorium, das heute aus einem geldpolitisch ultrakonservativen Professor und zwei mittelmässigen Karrierebeamten besteht. Diese Struktur geht auf die Nationalbankgründung von 1907 zurück und ist nicht mehr zeitgemäss. Das Gremium müsste erweitert werden und seine Entscheide müssten, wie heute in den andern Ländern, mit der Protokollveröffentlichung transparent gemacht werden.
Der elfköpfige Bankrat, der über Rückstellungen entscheiden kann, ist heute bedeutungslos, weil man ihn nach der alten, guthelvetischen Kommissionsbalance zusammensetzt, nämlich: Deutsch-Welsch-Tessin, Mann-Frau, links-rechts. Die Anträge des Direktoriums werden vom Bankrat einfach willfährig abgesegnet.
Unabhängigkeitsdogma zu exzessiv angewandt
Die Nationalbank-Leitung und ihre Zugewandten flüchten derzeit geradezu offensiv in die Schutzbehauptung ihres Unabhängigkeitsdogmas. Diese Doktrin muss hier geklärt werden: Die Notenbank-Unabhängigkeit ist richtig und unbestritten, wenn es um die Geld- und Währungspolitik geht, also um Zinsen, Devisenkäufe, Währungsmechanismen, Finanzsystemstabilität. Aber für die Vermögensbewirtschaftung und Gewinnverwendung ist der Staat zuständig. Denn die Nationalbankgewinne gehören dem Staat!
Es ist eine ungeheuerliche Anmassung, wenn heute die Nationalbank-Leitung und ihre Wasserträger ihr Unabhängigkeitsdogma auf ihre ganze Vermögensbewirtschaftung ausweiten. Diese extensive Ausweitung des Unabhängigkeitsdogmas ist weder verfassungs- noch gesetzeskonform!
Nationalbank-Vermögen ist gewissermassen ein „Staatsschatz“ oder „Sovereign“ und dieser gehört dem Volk. Er ist ja indirekt von der Volkswirtschaft erarbeitet worden. Die Gewinnausschüttungspraxis muss durch die staatlichen Behörden von Bund und Kantonen bestimmt oder mitbestimmt werden. Federführend beim Staat ist das Eidgenössische Finanzdepartement.
Es braucht etwas politischen Druck und Mut, dem Nationalbank-Direktorium diesen staatspolitischen Sachverhalt klar zu machen. Von sich aus wird es sich nicht bewegen. Denn dessen Fehlleistung wegen mangelnder Gewinnausschüttung aus diesem Volksvermögen zahlen sonst wir alle, die Steuerzahler.