Die koordinierte Verantwortungslosigkeit in der Corona-Vorsorge

Ergänzte Fassung der Kolumne von Rudolf Strahm in den TA-Media, Tages-Anzeiger, TA-Online, Bund, vom 21.April 2020

Von Tag zu Tag machen sich zur kontroversen Corona-Strategie der Regierung immer mehr Meinungsmacher, Epidemiologen, Oekonomen, Verbandslobbyisten und weitere Besserwisser bemerkbar. Was die richtigen Massnahmen zur Corona-Eindämmung sind, werden wir bestenfalls im Rückblick beurteilen können.

Doch eines ist heute schon offensichtlich und unbestritten: Die Strategiemassnahmen des Bundes wurden stets nach den verfügbaren Mitteln ausgerichtet, etwa nach dem Mangel an Schutzmasken, an der Nichtverfügbarkeit von Testreagenzien, Desinfektionsmitteln, Medikamenten und Spitalapparaten. Diese Knappheit hatte die gewählte Strategie bestimmt – nicht umgekehrt.

Wer wäre eigentlich zuständig für die Pandemie-Vorsorge gewesen? Wer trägt die Verantwortung? Wenn man die Zuständigen der involvierten Institutionen und Ämter befragt, lautet der Grundtenor stets: Es sind die andern.

Unklare Verantwortlichkeiten  – niemand führt

Das im Internet aufgeschaltete Gutachten über den „Zukünftigen Bedarf im Bereich Koordinierter Sanitätsdienst  KSD“, erstellt vom früheren BAG-Direktor Prof. Thomas Zeltner, beschrieb schon 2018 klar den institutionellen Kompetenzen-Wirrwarr und die unübersichtliche Verantwortlichkeiten im Geflecht von Sanitätsdiensten, Armeeapotheke, KSD-Verantwortlichem, Bundesamt für Wirtschaftliche Landesversorgung BWL, Bundesamt für Gesundheit BAG, kantonalen Gesundheitsdirektoren und Privatwirtschaft. Zeltners Empfehlungen zur Reorganisation mit einer klareren Kompetenzzuteilung sind bis heute nicht umgesetzt worden.

Viel konkreter noch sind die Strategien und Zuständigkeiten zur Vorbereitung einer Influenza-Epidemie im 126-seitigen, ebenfalls elektronisch zugänglichen „Influenza-Pandemieplan Schweiz“ von 2018 detailliert und papierlastig aufgezählt. Aber dieser Plan, unterschrieben vom BAG-Direktor, einem Verwaltungsjuristen, sowie von der Pandemiekommissionspräsidentin, liest sich wie ein Kompendium für die Streuung von Zuständigkeiten, für die Verwischung von Verantwortung. Alle sind aufgeführt, alle sind ein bisschen zuständig. Aber niemand hat die Führung und niemand trägt die Verantwortung fürs System als Ganzes

Eine Schwachstelle im Zuständigkeits-Sammelsurium des Pandemieplans ist das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung BWL, das prestigemässig und personell im Departement für Wirtschaft, Bildung, Innovation stets eine Randstellung einnahm. Es galt als Relikt der „Kanisterzähler aus dem Weltkrieg“, aber seine Bedeutung wurde auch unterschätzt. Eine Schwachstelle ist aber ebenso im Bundesamt für Gesundheit BAG zu identifizieren, das immerhin den Pandemieplan koordiniert, veröffentlicht und verantwortet hat.

Nach Pandemieplan hätte das BWL generell die Aufgabe der „Umsetzung und Kontrolle der Pflichtlagerhaltung“. Zu den antiviralen Medikamenten hätte es den Auftrag zur „Bewirtschaftung/Monitoring des Pflichtlagers“. Allerdings gab es mit Ausnahme einiger Morphin- und Antibiotika-Präparate gar kein solches Pflichtlager. Das BAG, das die Aufgabe hätte, Risikogruppen zu definieren, „Vorgaben und Empfehlungen zur Therapie-, Prä- und Postexpositionsprophylaxe und eine Spezialitätenliste“ zu erstellen, erfüllte seinen Auftrag ebenso wenig, wie die meisten Kantone, die das „Anlegen von Reserven in den Spitälern“ steuern sollten.

Ebenso wird das BWL im Pandemieplan zu den Schutzmasken verantwortlich gemacht mit der Formulierung: „Umsetzen und Kontrolle der Pflichtlagerhaltung“, wobei die Kantone die „Aufsicht über die Beschaffung, Lagerhaltung und Versorgung der Spitäler“ hätten. Das BAG hätte die Aufgabe, „Empfehlungen zur Anwendung der Schutzmasken“ zu verbreiten und hiezu „Kampagnen zu planen, zu koordinieren und durchzuführen“.

Insider erzählen, das BWL habe im Laufe der Pandemieplanung zwar auf klare Vorschriften für die Pflichtlagerhaltung durch Spitäler gedrängt. Diese Muss-Vorgaben seien allerdings von den Spitälern nicht grundsätzlich bekämpft, aber letztlich wegen fehlender Finanzierungszusicherung abgelehnt worden. Niemand insistierte und so blieb es bei der koordinierten Nicht-Verantwortlichkeit.

Das Fazit dieser Suche samt vielen mündlichen Rückfragen ist dies: Niemand trägt die Verantwortung! Alle Funktionäre und Ämter tun ihr Bestes. Jeder bezieht seinen Lohn, aber niemand entscheidet und führt. „Schuldig“ ist letztlich die Komplexität des Systems!

Systemische Ursachen der Vorsorgedefizite

Als ehemaliger Insider benenne ich einige systemische Elemente, die ungewollt diese kollektive Verantwortungslosigkeit ausmachen.

Da ist erstens die privatwirtschaftliche Organisation der Landesversorgung im BWL. Der Bundesamts-Chef ist nebenamtlich, derzeit ein Manager des Alpiq-Stromkonzerns. Der oberste Verantwortliche für Arzneimittel und Medizinprodukte ist ein Direktor des Ostschweizer Pharmakonzerns Vifor Pharma. Ein Bundes-Angestellter, der nicht zu den innovativsten gehört, betreut die Geschäftsstelle.

Die privatwirtschaftliche Organisation der Landesvorsorge hat sich zwar in vielen Bereichen durchaus bewährt und dem Bund viel Lageraufwand erspart. Aber sie ist auch lobbyabhängig. Autolobby und Brennstoffhändler sorgten dafür, dass die Pflichtlagerhaltung für Treib- und Brennstoffe für fünf Monate oder mehr reicht. Die Pflichtlager für Kunstdünger für die Landwirtschaft reichen sogar für ein Jahr. Demgegenüber waren die gelagerten Schutzmasken beim BWL bloss für etwa einen oder wenige Tage konzipiert. Die lange vor der Krise bemängelte Tatsache, dass die Wirksubstanzen für pflichtlagerfähige Medikamente ausschliesslich aus Indien und China stammen und hierzulande zu überteuerten Generika verarbeitet werden, wurde einfach hingenommen. Die Spitalapotheker, die diese Situation bemängelten wurden nicht gleichermassen ernst genommen.

Ein zweites systemisches Verknappungselement, vielleicht das folgenreichste, ist die Spitalfinanzierung mit der Fallkostenpauschale (DRG-System). Mit dieser Abgeltungsart wird nur gerade der diagnosebezogene Kostenaufwand für den Patienten entschädigt. Teure Lagerhaltungen, Kapazitätsreserven, Vorsorgemassnahmen und ein Teil der Ausbildungskosten werden nicht vergütet. Faktisch wird bestraft, wer solche Vorsorgemassnahmen trifft. Ein ehemaliger hoher Funktionär sagt: “DRG ist etwas vom Schlimmsten für die Vorsorge in Spitälern.“ Ich bin schon lange der Auffassung, dass vom Marktkonzept abgeleitete DRG-System mit seinen Überwälzungsmechanismen die Gesundheitskosten insgesamt verteuert (siehe Kolumne in dieser Zeitung vom 15.8.2017).

Zwar könnte ein Spital mit einem Leistungsauftrag des Kantons zur Pflichtlagerhaltung beauftragt werden. Es könnte vom Kanton Entschädigungen für so genannte Vorhalteleistungen einfordern. Aber die allgemeine Sparpolemik gegen die Gesundheitskosten hat dies in der Mehrheit der Kantone verhindert.

Ein dritter systemischer Verursacher der kollektiven Verantwortungslosigkeit liegt aber im Mainstream der Polemik um „Bürokratiekosten“, losgetreten vom Gewerbeverband und unterstützt vom Seco. Da werden Lebensmittelkontrollen, Aarbeitsplatz- und Umweltvorschriften, Lagerhaltungspflichten pauschal als „Regulierungskosten“ gebrandmarkt. Der frühere BAG-Direktor erhielt für seine Suchtpräventionskampagne sogar den Schmähpreis des „Rostigen Schlüssels“ von einem SVP-nahen Sektiererclub. Das Seco pusht schon seit Jahren eine gesetzliche „Regulierungskostenbremse“ und verschweigt systematisch die Kosten der Deregulierung, die jetzt augenfällig werden. Als Konsequenz gibt es nichts anderes, als diese Nonsense-Übung beim Bund abzubrechen.

Nun müsste man noch eine vierte Rahmenbedingung für die sträflichen Vorsorgeunterlassungen aufführen, nämlich die Qualifikation und Eignung des führenden Personals in der Bundesverwaltung, das halt nicht selten nach politischen Kriterien platziert wird.

Jetzt  grundlegende Reorganisation nötig

Nach dieser Corona-Krisenerfahrung braucht es eine fundamentale Reform der Vorsorgepolitik, des Systems der Pflichtlagerhaltung und der inländischen Grundversorgung mit Medikamenten, die in der Schweiz oder im europäischen Umland produziert werden.

Sobald die Parlamentarier ihre Sprache wieder gefunden haben, wird es dutzende von politischen und interessegeleiteten Vorstössen hiezu geben. Der Bundesrat täte gut daran, das Heft jetzt in die Hand zu nehmen und selber eine rasche fundamentale Reorganisation der Zuständigkeiten vorzuschlagen. Sonst bleibt er, wie so oft in normalen Zeiten, wieder als der von Lobbygruppen Getriebene auf der Strecke.

(Dies ist eine ausführlichere, ergänzte Fassung der Kolumne von Rudolf Strahm in den TA-Media, Tages-Anzeiger, TA-Online, Bund, vom 21.April 2020 unter dem Titel „Koordinierte Verantwortungslosigkeit“. – Aus urheberrechtlichen Gründen können die Original-Kolumnen von Rudolf Strahm nicht mehr in seiner Website www.rudolfstrahm.ch  aufgeschaltet und zugänglich gemacht werden.)

https://www.tagesanzeiger.ch/niemand-traegt-die-verantwortung-in-der-pandemie-vorsorge-910684807290