Das Virus korrigiert die Wirtschaftslehrbücher

Kolumne im Tagesanzeiger/Bund vom 23.März 2020

Die Krise hat das Staatssekretariat für Wirtschaft auf dem falschen Fuss erwischt. Dieses muss jetzt unideologisch und pragmatisch handeln.

Die Journalistenfragen waren klar. «An wen muss sich eine Coiffeuse oder ein Barbetreiber wenden, wenn ihr Laden behördlich wegen Corona geschlossen wird?» Die dafür zuständige Seco-Chefin, Staatssekretärin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch, schwurbelte an der Bundespresse­konferenz etwas von «Vorbereitungen» mit «Hochdruck», aber zu praktischen, hilfreichen Antworten an die Bürger war sie auch nach weiteren Rückfragen nicht in der Lage.

Peinlich, dass die oberste Chefin des Wirtschaftsamtes auf solche nahe­liegenden Fragen der Bürger keine Antwort wusste. Sie hatte karrieremässig zuvor die Ochsentour als Handelsdiplomatin durchlaufen; in inländischer Wirtschaftspolitik fehlen ihr die Kompetenz und die Erfahrung.

Der Umgang mit der Corona-Krise wird die alte Frage nach der Aufteilung des Monsteramts Seco erneut beleben. Das Seco wurde nämlich erst 1999 aus der Zusammenlegung des Bundesamts für Aussenwirtschaft (Bawi) mit dem Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (Biga) gebildet. Dieser hoch umstrittene Bundesratsentscheid fiel damals knapp mit einem Stimmenverhältnis von 4 zu 3, wobei der antragstellende Bundesrat während der Sitzung noch seine Meinung änderte. Auch 20 Jahre später bestehen in diesem unführbaren Monsteramt immer noch die zwei Kulturen von Aussenhandelsdiplomatie und Binnenwirtschaftspolitik.

Economiesuisse wird immer häufiger nur noch als Abstimmungsmaschinerie für die grossen Konzerne wahrgenommen.

Das Seco war stets auf konjunkturelles Schönwetter und Absenz des Staates eingestellt. Es war geradezu Champion im Abwehren von Konjunkturmassnahmen. Noch kürzlich rechtfertigte der Seco-Chefökonom Eric Scheidegger die Seco-Position zur Corona-Krise in der «Weltwoche» mit nötigen «genaueren Analysen» und mit «automatischen Stabilisatoren». Man wolle auf «vorschnelle staatliche Intervention verzichten». Nun hat das Virus sie unvorbereitet auf dem falschen Fuss erwischt. Diese Zeitung fragte letzte Woche provokativ: «Wo ist eigentlich Parmelin?» Und die sonst stets zur staatlichen Absenz neigende «Neue Zürcher Zeitung» mahnte: «Der Bundesrat muss das Tempo erhöhen.»

Nach Bekunden aller Teilnehmer am runden Tisch zur Krisenstrategie war gerade nicht Wirtschaftsminister Guy Parmelin der Bremser. Aber er hat eine Seco-Verwaltung mit ideologischem Klumpfuss geerbt. Seit dem Ausbruch der Krise war er sehr präsent. Er rief zum runden Tisch, versprach, man werde tun, was notwendig sei, es gebe keine Tabus. Parmelin akzeptierte die wichtigsten Vorschläge, die die Sozialpartner gemeinsam vorgelegt hatten. Die erfahrensten Inspiratoren des bundesrätlichen Programms waren Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt und Gewerkschaftsbundsekretär Daniel Lampart. Parmelin setzte dieses mit dem Bundesrat gegenüber seiner trägen Verwaltung durch.

Economiesuisse ist von der Entwicklung geradezu überrollt worden. Ihr Chefökonom wehrte aktive Stabilisierungsmassnahmen des Bundes noch eine Woche zuvor als überflüssig ab. Dieser Verband wird immer häufiger nur noch als Abstimmungsmaschinerie für die grossen Konzerne wahrgenommen.

Zinserhöhung seitens der Banken müssen geregelt werden
Aus Erfahrung früherer Krisenprogramme wissen wir, dass eine Stabilisierung der Wirtschaft nur wirksam ist, wenn sie rasch und pragmatisch an die Zielgruppen gelangt. Mit dem historisch beispiellosen Krisenprogramm von 42 Milliarden Franken geht es um rasche Stützungsmassnahmen für wohl über 200’000 kleinere und kleinste Firmen und ihre Arbeitnehmer. Deshalb sind die starke Ausweitung der Kurzarbeitsentschädigungen auf alle Arbeitsverhältnisse und gleichzeitig die temporäre Erwerbsausfallentschädigung für Selbstständige der richtige Weg. Denn die dazu nötigen Anlaufstellen in den Kantonen existieren und sind eingespielt.

Die Abwicklung der Liquiditätshilfen mittels Kreditbürgschaften an Unternehmen wurde nicht vom Seco, sondern im Finanzdepartement vorbereitet. Serge Gaillard, Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung, leitete im Auftrag von Finanzminister Ueli Maurer die Arbeitsgruppe. Das Bürgschaftsmodell ist praktikabel und griffig. Aber man muss dabei sicher noch den möglichen Missbrauch durch Zinserhöhungen seitens der Banken regeln.

Mit diesem Massnahmenpaket geht es heute darum, die Wirtschaft sofort zu stabilisieren und den Kollaps von Firmen zu verhindern. Was aber, wenn der Corona-Einbruch in eine längere globale Rezession übergeht?

Man müsste gewisse Mainstream-Lehrbücher längst umschreiben oder einstampfen.

Niemand möchte derzeit über längerfristige Massnahmen für «die Zeit danach» sprechen. Aber eigentlich müsste jetzt schon verwaltungsintern in aller Stille über nachfolgende aktive Konjunkturprogramme nachgedacht werden. Ich denke etwa an Impulsprogramme für nachhaltige Investitionen im Energie- und Solarbereich, an neuartige Werbeimpulse für die eingebrochene Tourismusbranche oder an Sanierungs- und Effizienzmassnahmen für die Gastro- und Hotelbranche. Solche Programme erfordern eine Vorlaufzeit von mehreren Monaten.

Im wichtigsten Wirtschaftsartikel der Bundesverfassung, im BV-Artikel 100, heisst es: «Der Bund trifft Massnahmen für eine ausgeglichene konjunkturelle Entwicklung, insbesondere zur Verhütung und Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Teuerung.» Im Zeitalter der Globalisierung und Liberalisierung wollte man diese Staatsaufgabe vergessen. Neoliberale Wirtschaftskunde-Bücher haben sie schon gar nicht mehr erwähnt oder bloss als marktschädlich kritisiert. Das Virus hat indes den ideologischen Glauben an die Selbstheilungskräfte der Märkte infrage gestellt. Man müsste gewisse Mainstream-Lehrbücher längst umschreiben oder einstampfen.

https://www.tagesanzeiger.ch/wirtschaft/konjunktur/das-virus-korrigiert-die-wirtschaftslehrbuecher/story/11044440