Offene Fragen an Jean-Claude Juncker

Nächste Woche wird der mächtige und umstrittene EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Schweiz mit einem Besuch beehren und erwartungsgemäss unspektakuläre Äusserungen zu Europa von sich geben. Anlass ist das 70-jährige Jubiläum der Zürcher Europarede von Winston Churchill vom 19. September 1946, in der er zur Einigung Europas aufrief: «Let Europe arise!» – «Lasst Europa entstehen!»

Juncker wird wohl die Schweiz ermahnen. Von neuen Perspektiven für Europa wird er aber nicht sprechen können, selbst wenn er das gerne täte. Aktive Europa-Politiker sind machtlos in der Macht gefangen. Je stärker die EU in Frage gestellt wird, desto mehr verdrängen sie Reformideen aus Angst vor einer hochschiessenden der EU-Kritik. Also lassen sich von jedem Krisenereignis weitertreiben.

Mittlerweise hat in Brüssel aber eine hochrangige und einflussreiche fünfköpfige Expertengruppe eine Perspektive gezeichnet, wie es mit Europa nach dem Brexit-Beschluss weitergehen soll. Die Gruppe besteht aus europäischen Staatsmännern, ihr Konzept läuft  unter dem Namen «Bruegel» und schlägt eine neue Form der «Continental Partnership» (CP) vor (www.bruegel.org. Europe after Brexit, a proposal). Mir scheint der Vorschlag realistisch.

Und er geht so: Grossbritannien soll in einem Vertragswerk einer kontinentalen Partnerschaft eingebunden werden. Für Nicht-EU-Mitglieder soll quasi ein äusserer Kreis gebildet werden; ein Perspektivplan, der auch für die Schweiz zukunftsweisend sein könnte.

Vorgeschlagen wird ein neues Vertragswerk einer kontinentalen Partnerschaft, das die volle wirtschaftliche Kooperation mit einem freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital nach EU-Muster weiterführt, aber die Personenfreizügigkeit ausschliesst. Dieser Plan befürwortet zwar eine geordnete Mobilität von Fachkräften, aber jedes CP-Land im äusseren Kreis soll die Mobilität und Immigration selber steuern können. Heute erzwingt der freie Personenverkehr im Binnenmarkt einen Verzicht auf jede staatliche, nationale Steuerung der Zuwanderung und etabliert eine grenzüberschreitende Rekrutierungsautonomie der Konzerne.

Mit einer solchen kontinentalen Partnerschaft würde die bisherige Integration des Kontinents weitergeführt und gefestigt, aber der politischen Polarisierung und dem Auftrieb EU-feindlicher rechtspopulistischer Parteien wäre im äusseren Kreis der Boden entzogen. Denn in England und in ganz Europa – auch in der Schweiz – entstand der nationalistische Widerstand gegen die europäische Integration zu 80% durch die Migrationsprobleme und deren sozialen und kulturellen Folgewirkungen.

Personfreizügigkeit begrenzt

Die Bürger Europas mögen durchaus eine Kooperation unter europäischen Staaten; aber ihr Widerstand gegen die Migration ist verhaltensleitend und für die europäische Zukunft match-entscheidend. Von dieser durch Umfragen erhärteten Analyse geht die Bruegel-Gruppe beim Partnerschafts-Konzept aus. Ihre zentrale ökonomische Aussage ist die: Für eine wirtschaftliche Integration ist die Personenfreizügigkeit gar nicht notwendig. Es braucht zwar eine Mobilität von Fachkräften, aber nicht eine Freizügigkeit aller Arbeitskräfte nach EU-Doktrin.

Für die drei bisherigen Freiheiten des Verkehrs von Waren, Dienstleistungen und Kapital zeichnet der CP-Vorschlag eine intelligente Lösung: Der Acquis Communautaire (bisheriges Binnenmarktrecht) soll für diese drei  Freiheiten – sie sind weitgehend unbestritten – für alle Mitglieder des CP-Vertragswerks gelten. Die Fortentwicklung soll nach vorgängiger Konsultation der Nicht-EU-Länder, die in einem CP-Rat mitwirken, von der EU beschlossen und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs EuGH unterstellt werden. Damit  bleibt die Homogenität des europäischen Binnenmarkts gewahrt, aber die Personenfreizügigkeit ausgeklammert. Jeder CP-Mitgliedstaat im äussern Kreis wird frei sein, die Zuwanderung selber zu steuern, seine flankierenden Lohnschutzmassnahmen und seine Sozialpolitik wieder eigenständig zu gestalten. Damit würde dort dem migrationskritischen Populismus der Boden entzogen.

Der Vorschlag der Bruegel-Gruppe hat deshalb eine hohe Bedeutung, weil er von erfahrenen Staatsmännern und EU-Kennern entworfen und wohl mit deren Herkunftsregierungen abgesprochen worden ist. Zu den Autoren gehören etwa Norbert Röttgen, der derzeitige Präsident des aussenpolitischen Ausschusses des deutschen Bundestags, Jean Pisani-Ferry, der Berater des französischen Staatspräsidenten, oder Paul Tucker, ehemals zweithöchster Mann der britischen Notenbank.

Es gibt durchaus auch idealistische Reformvorschläge der EU-Kritik aus dem linken Lager: Die Politologin Ulrike Guérot zum Beispiel möchte eine «Republik Europa» ohne Landesgrenzen neu erfinden. Die Historiker Brendan Simms und Benjamin Zeeb wollen die «Vereinigten Staaten von Europa» neu erbauen. Das sind  kreative Utopien, aber ohne jeglichen Realitätsbezug. Demgegenüber ist der Vorschlag der Bruegel-Gruppe ein realistisches Verhandlungskonzept für die europäische Diplomatie nach dem Brexit-Entscheid.

Eine Option auch für die Schweiz

Die Bruegel-Gruppe sagt explizit, das CP-Vertragswerk könnte neben Grossbritannien auch eine Option sein für die Schweiz, für Norwegen, vielleicht später für die wirtschaftliche Anbindung der Ukraine, der Türkei oder der Balkanländer werden, ohne diese in den freien Personenverkehr und die Unionsbürgerschaft einzubeziehen.

Wenn Europa nicht in der Lage ist, Grossbritannien und diese Länder wirtschaftlich einzubinden, so die Bruegel-Gruppe, dann wird es gespalten werden: Dann werden sich England auf die USA, andere Randstaaten Europas auf Asien und Russland ausrichten. Europa wird geostrategisch dadurch noch schwächer werden und zurückfallen.

Für die Schweiz würde eine Beteiligung an diesem Vertragswerk der kontinentalen Partnerschaft unsere beiden grossen Streitfragen mit der EU auffangen: unsere angestrebte Hoheit über die Personenfreizügigkeit würde erfüllt  und das von der EU geforderte bilaterale Rahmenabkommen zur institutionellen Anpassung an den europäischen Binnenmarkt würde hinfällig.

Erstaunlich, im EDA hat man an zuständiger hochrangiger Stelle die Continental Partnership zwar «zur Kenntnis genommen», aber «noch nicht studiert». Man hält sie aber für «theoretisch möglich». Der Bundesrat hat nun Gelegenheit, in seinem nächsten, derzeit vorbereiteten Bericht zu Europa diese strategische Option aufzunehmen. Etwas Horizonterweiterung würde nicht schaden. Und es würde sich auch lohnen, Jean-Claude Juncker herauszufordern, auf neutralem Schweizer Boden zur europäischen Perspektive einer Continental Partnership etwas Substanzielles zu sagen.

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