Kolume im Tagesanzeiger/Bund vom 23.08.2016
Es ist eine politische Anmassung der fünf Bundesrichter, die wirtschaftlich motivierte Personenfreizügigkeit auf die Stufe der Menschenrechte zu heben.
Das hat es noch nie gegeben: Ein ehemaliger Bundesgerichtspräsident geht gegen eine Journalistin vor, weil sie angeblich «wahrheitswidrig» aus dem Bundesgericht aus Lausanne berichtet. Bei diesem Kampf um die «richterliche Wahrheit» geht es um ein politisch brisantes, selbst in Fachkreisen und bei Bundesrichtern umstrittenes Urteil. Es läuft ein Ringen um Einfluss von Richtern in der Politik. Dieser Kulissenkampf muss auch uns Bürger interessieren, selbst wenn es um komplexes Juristenfutter geht.
Auslöser war ein Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts vom November 2015. Es ging um das Bleiberecht einer sozialhilfeabhängigen Frau aus der Dominikanischen Republik, die mit Berufung auf das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU in der Schweiz bleiben wollte, weil sie einen Sohn mit einem deutschen Mann hatte, von dem sie getrennt lebte. Die fünf Richter lehnten den Aufenthalt der Dominikanerin einstimmig ab.
So weit war das Urteil Routine.
Aber in der Urteilsbegründung schrieben die Richter – völlig unnötig, wie verärgerte andere Bundesrichter und Rechtsprofessoren sagen – eine politisch brisante Grundsatzerklärung: Sie proklamierten, dass das Freizügigkeitsabkommen in jedem Fall auch gegenüber der neuen Gesetzgebung zur Masseneinwanderungsinitiative Vorrang behalten werde. Wenn der Gesetzgeber vom Abkommen abweiche, müsse es gekündigt werden. Das neue Ausführungsgesetz zur Steuerung des freien Personenverkehrs (das noch gar nicht existiert) sei sonst nicht anwendbar.
Die NZZ-Berichterstatterin am Bundesgericht, die promovierte Juristin Katharina Fontana, schrieb darauf nach Rücksprache mit mehreren Rechtsgelehrten in der NZZ: «Der Volkswille spielt keine Rolle» – sie meinte bei den Bundesrichtern. Der verärgerte ehemalige Bundesgerichtspräsident Giusep Nay reichte darauf beim Presserat eine Beschwerde ein – ein einmaliger Vorgang.
Der Presserat indes konnte nach eingehender Prüfung keine Wahrheitswidrigkeit der Journalistin ausfindig machen; bemängelt wurde lediglich die in der NZZ praktizierte Vermischung von Faktenbeschreibung und Kommentar.
Eine unnötige Provokation
Die fünf Bundesrichter (einer von ihnen war dagegen) deklarierten ihre Erwägung gleich als zukünftigen Leitmassstab des Bundesgerichts. Diese neue Leitpraxis wurde von welschen Politikern flugs als politische Waffe benützt: Wenn Parlament und Volk zur besseren Kontrolle der Personenfreizügigkeit eine Schutzklausel (gemäss dem Vorschlag des Bundesrats) oder einen Inländervorrang (gemäss den bürgerlichen Parteien) beschlössen, würde dies vom Bundesgericht gleich ausgehebelt. «Ihr könnt beschliessen, was ihr wollt, eure Gesetzgebung ist ohnehin ungültig», so der Tenor von Politikern.
Das Bundesgericht in Lausanne hat 38 gewählte Bundesrichter. Eine fünfköpfige Kammer hat diesen Leitentscheid gefällt, ohne weitere Kollegen zu konsultieren. Andere Bundesrichter, ehemalige Bundesrichter und Staatsrechtsjuristen sind verärgert über die unnötige Provokation der Fünf. Ihre brisante Grundsatzerwägung wäre bei diesem Urteil unnötig gewesen.
Sie brechen mit einer über 40-jährigen Rechtstradition des Schweizerischen Bundesgerichts, mit der sogenannten Schubert-Praxis. Diese Beurteilungsregel besagt, dass sich das Bundesgericht bei einem Widerspruch zwischen einem älteren Staatsvertrag und einem neueren Bundesgesetz an das neuere Bundesrecht hält und wenn möglich dem Volkswillen Rechnung trägt.
Einzig bei den Menschenrechten hat das Völkerrecht in jedem Fall Vorrang – nach meiner Auffassung zu Recht. Nach der bisherigen Schubert-Praxis müsste aber das neue, derzeit vom Parlament behandelte Ausführungsgesetz zur Personenfreizügigkeit vor dem 15 Jahre alten Freizügigkeitsabkommen Vorrang erhalten oder zumindest berücksichtigt werden.
Was bewog vier der fünf Bundesrichter der erwähnten Kammer zu dieser Provokation? Sie wollten in die Politik eingreifen und dem Parlament vorweg den politischen Tarif durchgeben. Von den fünf Bundesrichtern gehören drei zum grünen und linken Lager, zwei sind bürgerlich. Sie haben nach Auffassung mancher Juristen und Bundesrichter ihre Grenze überschritten. Bereits 2012 hatten sie mit einem ähnlichen, brisanten Urteil die Lancierung der unseligen, dogmatischen SVP-Initiative «Schweizer Recht statt fremde Richter» veranlasst.
Ehemalige Bundesrichter, mit denen ich gesprochen habe, sind der Meinung, ein solch brisantes Leiturteil sollte von den Vereinigten Bundesgerichtsabteilungen entschieden werden, also von allen 38 Bundesrichtern. Das Gesamtgericht würde sicher anders entscheiden und die Schubert-Praxis beibehalten. Die bevorstehende Revision des Bundesgerichtsgesetzes gibt bald die Möglichkeit zur Korrektur des Verfahrens.
Freizügigkeit: Kein Menschenrecht
Die Einhaltung der Menschenrechte gemäss der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sollte in jedem Fall den Vorrang behalten, auch wenn wir mit der eigenständigen Fortentwicklung durch Strassburger Richter gelegentlich Mühe haben.
Die SVP-Initiative «Schweizer Recht vor fremden Richtern» ist Ausdruck einer ungeklärten Rechtslage, aber sie ist ein Overkill für ein komplexes Problem. Sie ist nicht durchdacht, formuliert von einen SVP-Wirtschaftsrechts-Professor, der fachlich seine Grenzen überschritten hat. Beim Volk wird sie hoffentlich scheitern.
Menschenrechte sollen weiterhin den absoluten Vorrang erhalten. Aber die EU-Personenfreizügigkeit ist nicht ein Menschenrecht, sondern ein Wirtschaftsrecht! Das freie Herumschieben des «Produktionsfaktors Arbeit» wird als neoliberales Wirtschaftsrecht von der EU gleich behandelt wie der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapitel. Die Personenfreizügigkeit ist eine neoliberale Dogmatisierung der EU-Wirtschaftsfreiheiten. Es ist eine politische Anmassung der fünf Bundesrichter, die wirtschaftlich motivierte Personenfreizügigkeit auf die Stufe der Menschenrechte zu heben.
Das EU-Migrationsrecht wird häufig auch von den EU-Ländern nicht eingehalten und geradezu systematisch umgangen. Man google im Internet einmal das Stichwort «Vertragsverletzungsverfahren» der EU-Kommission oder des Europäischen Gerichtshofs. Man wird dabei rasch belehrt, dass es Dutzende von Vertragsverletzungen durch EU-Mitgliedsstaaten gab und gibt. Der bei uns von Europarechtsprofessorinnen gepflegte Rechtsdogmatismus kommt recht buchstabengläubig und praxisfeindlich daher.
Wir brauchen im schwierigen Spannungsverhältnis von Völkerrecht und Landesrecht eine «praktische Konkordanz», wie sich der Staatsrechtler Daniel Thürer kürzlich ausdrückte. Wir brauchen einen kompromissbereiten Pragmatismus, eine Unterscheidung zwischen EU-Personenfreizügigkeitsrecht und EMRK-Menschenrechten. Und wir brauchen Richter, die Recht sprechen und nicht Politik machen.