Von Rudolf Strahm
In seinem 95. Altersjahr ist Helmut Hubacher letzte Woche gestorben. Die Schweiz verliert eine historische Persönlichkeit. 34 Jahre war Hubacher Nationalrat, 15 Jahre Präsident der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und als publizistischer Meinungsbildner wirkte er bis kurz vor seinem Tod.
Innert weniger Wochen hatte ihn sein Hirntumor lahm gelegt. Seinen Abschied konnte er in Würde und mit vollem Bewusstsein vorbereiten. „Ich bin gefasst, Ruedi, es ist jetzt Zeit“, sagte er mir Ende Juni. Offen sprach er über seine Krankheit und die grosse Hilfe seiner Frau Gret.
Jahrzehntelang hatte Hubacher die Schweizer Politik mitgeprägt. Kaum einer sprach eine so klare und verständliche Sprache, kaum jemand im Bundesbern war so schlagfertig. Und keiner wurde während des kalten Kriegs von unheimlichen Patrioten derart als Landesverräter und Nestbeschmutzer exkommuniziert, – zum Beispiel als er die Affäre um das nie funktionierende Luftabwehrsystem Florida lostrat. Und später ebenso, als er die korruptionsähnlichen Panzer- und Flugzeugbeschaffungen zum Politikum machte.
In seiner Amtszeit als Präsident der SP Schweiz vollzog die Sozialdemokratie einen grundlegenden Wandel. Mit der Schwarzenbach-Initiative 1970 – eine für Hubacher traumatische und prägende Episode – verlor die Partei erstmals einen Teil der traditionellen Arbeiterschaft. Gleichzeitig strömten nach 1968 junge Linke in die SP oder setzten sie von aussen unter oppositionellen Zugzwang.
Im Gegensatz zu den meisten Exponenten der damaligen SP-Prominenz zeigte Helmut Hubacher früh Bereitschaft zur Öffnung der Partei für akademische Junglinke, für liberale Bildungsbürger und nach der Kaiseraugst-Besetzung 1975 auch für ökologische Bewegungen. Auch die Öffnung der Partei gegenüber feministischen Themen bewältigte er als Parteipräsident – allerdings nicht ohne schwere Konflikte mit Radikalfeministinnen auszuhalten (ich erlebte diese turbulente Zeit als Zentralsekretär der Partei).
Sein Credo zur Führung dieser heterogenen Partei war: Es braucht einen linken Flügel, deshalb nahm er Jean Ziegler, Arthur Villard und Pazifisten in Schutz. Und es braucht einen rechten Flügel, als Gewerkschafter genoss er Vertrauen im traditionellen Arbeitermilieu. Aber vor allem braucht es ein starkes Zentrum, das er, Hubacher, verkörperte und zusammen mit Andreas Gerwig, Walter Renschler und Lilian Uchtenhagen klar anführte. Nach ihm hat niemand mehr eine solche Fähigkeit zur Integration zuwege gebracht.
Die letzten Nationalratswahlen 2019 haben Hubacher wegen das starken Wählerverlusts der SP gekränkt und zornig gemacht. Er wollte ein Buch zur Sozialdemokratie schreiben. In seinem letzten Brief schrieb er dann: „Mein geplantes Buch habe ich aufgegeben“. Und am Telefon sagte er mir, er müsse dringend noch die 60 Boxen mit seinen persönlichen Dokumenten für die Abholung durch das Schweizerische Sozialarchiv vorbereiten. All das konnte er abschliessen. Was der Nachwelt bleibt, ist sein dokumentarisches Vermächtnis.
Seine allerletzte Kolumne in der Basler Zeitung beendete er, der früher von seinen Gegnern als Landesverräter so gebrandmarkt worden war, mit dem Credo: „Diese Schweiz ist alles in allem ein fantastisches Land.“
Rudolf Strahm
Publiziert in der Weltwoche Nr. 35 vom 27. August 2020