Die Corona-Arbeitslosigkeit wird die Jungen in der Westschweiz besonders hart treffen. Das ist die Folge einer fehlgeleiteten Bildungspolitik.
Kolumne von Rudolf Strahm
Publiziert: 11.08.2020, 08:30 in TA-Media (TA-Online, Tages-Anzeiger, Bund)
Die Arbeitslosigkeit als Folge der Corona-Krise hat noch längst nicht den Höhepunkt erreicht. Das grösste Drama zeigt sich bei der steigenden Jugendarbeitslosigkeit. Denn es gibt keine grössere Demütigung eines jungen Menschen als das Gefühl, nicht gebraucht zu werden.
Gerade in dieser Krise manifestiert sich der alte Röstigraben der Bildungssysteme und damit auch die Kluft bei der Arbeitsmarktbefähigung. In der Romandie, wo die Berufslehre weniger gepflegt wird, gehen die Berufslehren jetzt am meisten zurück, und die Jugendarbeitslosigkeit ist signifikant höher.
Während in der deutschen Schweiz 61 Prozent der Jugendlichen ihre Berufskarriere mit einer dualen Berufslehre beginnen, sind es in der Westschweiz nur 37 und im Kanton Genf bloss 18. Unter «dualer Lehre» verstehen wir die Kombination von betrieblicher Ausbildung und staatlicher Berufsfachschule.
Die Konsequenz aus diesem Gefälle vom Bodensee zum Genfersee zeigt sich dann bei der Jugendarbeitslosigkeit: Im Juni 2020 betrug die Quote der Jugendarbeitslosen (bis 24-jährig) in der deutschen Schweiz 3,0 Prozent, in der Westschweiz aber 4,3 und im Tessin sogar 5,6. In der berufsbildungsaktiven Ost- und Zentralschweiz lag sie bei tiefen 2,1 Prozent. Diese strukturelle Kluft zeigt sich ungeachtet der Konjunkturlage seit vielen Jahren.
Wie das Schweizer Fernsehen recherchierte, werden diesen Sommer im Kanton Genf 24 Prozent und in der Waadt 17 Prozent weniger Lehrstellen angeboten. In der deutschen Schweiz bleibt das Angebot stabil. In der Romandie kümmern sich die Betriebe viel weniger um die Berufsbildung: Während in den Deutschschweizer Firmen durchschnittlich 5,1 Lehrlinge pro 100 Beschäftigte ausgebildet werden, sind es in der Genferseeregion nur 3,4 und im Kanton Genf sogar nur gerade 1,7 Lernende pro 100.
Mit ihrer Bildungskultur haben die Westschweizer Kantone die arbeitsmarktferne akademische Bildung stark erweitert.
Diese Berufsbildungskluft im Land hat historische und kulturelle Gründe. Während im deutschsprachigen Raum (auch in Deutschland und Österreich) die Zünfte schon früh für eine starke Lehrlingsausbildung sorgten und die Gewerbeverbände die duale Lehre bis heute verteidigen, förderte die Westschweiz in Anlehnung an Frankreich mit Ausnahme der Uhrenindustrie stärker eine vollschulische Bildungskultur.
In der massgebenden Bildungselite der Romandie hat die Berufslehre ein soziales Stigma und wenig gesellschaftlichen Rückhalt. Sie gilt als Ausbildung «pour les plus défavorisés» – für die Benachteiligten. Demgegenüber hat die Berufsbildung in der Deutschschweiz eine hohe Reputation bei der inländischen Wirtschaftselite; bei ausländischen Managern allerdings weniger.
Mit dieser Bildungskultur haben die Westschweizer Kantone die arbeitsmarktferne akademische Bildung stark erweitert: In Genf beträgt die Maturitätsquote 34 Prozent, in der Waadt 31. In der Deutschschweiz (ausser Basel-Stadt) bewegt sich der Anteil der Jugendlichen mit gymnasialer Matura zwischen 16 und 21 Prozent (und zusätzlich die 15 Prozent Jugendlichen, die mit oder nach der Berufslehre die Berufsmaturität abschliessen).
Heute steckt die Romandie in einer Art Akademisierungsfalle. Wegen des Mangels an qualifizierter Berufskompetenz im Sekundärsektor geriet die Genferseeregion früher in die Desindustrialisierung. Sie verfolgt heute einen Pfad der «Monacoisierung» mit einer Finanzverwaltungs- und Dienstleistungsstruktur durch (meist fremde) Domizilgesellschaften und Holdings.
Je stärker die gymnasiale Maturität verbreitet wird, desto mehr verliert die Berufslehre an gesellschaftlichem Prestige. Städtische Eltern drängen ihre Jungen häufiger mit Privatstunden und Notenrekursen ins Gymnasium.
Diese Problematik wird oft verdrängt. Akademisch ausgebildete Eltern und Gymnasiallehrer reagieren oft sauer auf solche Befunde. Ich denke, Jugendliche, die in der Schule gut sind und auch gern zur Schule gehen, sollen durchaus den gymnasialen Weg wählen. Doch der akademische Bildungsweg garantiert keineswegs sichere Jobs und Karriere, vor allem nicht nach einem Studium in Geistes-, Sozial- und Kunstwissenschaften.
Laut dem Bundesamt für Statistik haben 49 Prozent aller Uni-Absolventen ein Jahr nach ihrem Master-Abschluss keine feste Anstellung, viele hangeln sich von Praktikum zu Praktikum. Auch nach fünf Jahren haben immer noch 28 Prozent der Masterabsolventen bloss eine befristete Anstellung. Letzte Woche titelte diese Zeitung provokativ: «Studium beendet – Nothilfe beantragt».
Dringend nötig wären konkrete Massnahmen zur Aufwertung der höheren Berufsbildung.
Wer eine Berufslehre und anschliessend eine Fachhochschule oder eine höhere Berufsbildung durchlaufen hat, ist im Arbeitsmarkt begehrt. In der dualen Berufslehre lernt man zusätzlich zu den fachlichen und berufspraktischen Kompetenzen eben auch «Soft Skills» wie exaktes Arbeiten, Präzision, Termintreue, Zuverlässigkeit und Verantwortung für ein Projekt – alles Eigenschaften, die im Privatsektor immer noch begehrt sind.
Unser welscher Wirtschafts- und Bildungsminister Guy Parmelin ist durch das bildungspolitische Röstigraben-Problem besonders herausgefordert. Als gelernter Winzer anerkennt er durchaus den Wert der Berufsbildung. Doch hat er im Vergleich zu seinem Vorgänger Johann Schneider-Ammann in anderthalb Jahren noch keine Signale ausgesendet.
Dringend nötig wären konkrete Massnahmen zur Aufwertung der höheren Berufsbildung. Parmelin überlässt den bildungspolitischen Takt seinem durch und durch akademisierten, selbstlaufenden Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation. Doch die Berufslehre und die höhere Berufsbildung brauchen gerade heute mehr Fürsprecher und politischen Support.
Publiziert: 11.08.2020, 08:30 TA-Online
Dieser Text wurde von der Online-Zeitung „Bonpourlatête“ ins Französische übersetzt. Er ist auf Anfrage beim Autor erhältlich.