Konzernhaftung ist marktwirtschaftliches Fairplay

Verantwortung für seine Taten zu übernehmen, gehört zu den urschweizerischen Tugenden – auch für Unternehmen. Der Kampf der Konzerne gegen die Konzernverantwortungsinitiative ist anachronistisch und paradox.

Von Rudolf Strahm

Publiziert in TA-Online 3. November 2020 um 06:00 Uhr

(Hier ist die Langfassung der Kolumne im Tages-Anzeiger und im Bund)

Proteste 2018 gegen eine Ausstellung im Kunstmuseum Bern von Lafarge Holcim – einem der Unternehmen, deren Geschäftspraktiken im Ausland in der Kritik stehen.

In der urschweizerischen Tradition galt immer diese unumstössliche Pflicht: Wer dem Nachbarn einen Schaden zufügt, haftet dafür. Der Bauer haftete, wenn seine Gülle oder sein Wasser in Nachbars Küche oder Keller rann. Der Gewerbetreibende haftete, wenn sein Gefährt des Nachbarn Haus beschädigte. Von alters her ist die Schadenhaftung eine Grundlage des guten Zusammenlebens.

Im ersten eidgenössischen Fabrikgesetz von 1877, das erstmals die Kinderarbeit verbot, wurden die Sorgfaltspflicht sowie eine Haftungsklausel für Unternehmer verankert. Im damaligen Referendumskampf drohten die Textilbarone: «Das ist unser Ruin!» Man hat ihnen nicht geglaubt. Pikanterweise wurde das Gesetz ausgerechnet vom Schweizerischen Handels- und Industrieverein, der Vorläuferorganisation der heutigen Economiesuisse, erfolglos bekämpft.

Die Haftungsfrage ist die selbstverständliche Anstandsregel des marktwirtschaftlichen Fair Play.

Heute gilt die Schadenhaftung in der Marktwirtschaft als fundamentalstes Prinzip der Eigentumsfreiheit. Jede Firma haftet für Schäden, die sie oder ihre Tochterfirma verursachen. Wer im Strassenverkehr einen andern schädigt, haftet sogar auch dann, wenn kein Verschulden vorliegt. Ein KMU-Chef sagt: «Uns bleibt nur die Wahl, ob wir das Schadenrisiko versichern oder ob wirs auf uns nehmen. Haften muss meine Firma allemal.»

Die Haftungsfrage ist die selbstverständliche Anstandsregel des marktwirtschaftlichen Fair Play. Haftungsverpflichtung gilt als Grundbaustein der Verantwortungsethik.

Für Konzerne – so heissen die Mehrbetriebsunternehmen – gilt in der Schweiz und in zivilisierten Industriestaaten das Grundprinzip: Die Muttergesellschaft haftet für ihre Töchter im Inland. Doch ausgerechnet die multinationalen Konzerne, die grössten und internationalsten Nutzniesser der Globalisierung, verweigern bis heute eine Haftung für die Schäden ihrer Tochtergesellschaften in jenen Ländern, in denen die Armen keinen Rechtsschutz haben! Die Konzernmanager pochen mit den abgedroschensten Phrasen auf ihre «Freiwilligkeit» und «unternehmerische Eigenverantwortung». Oder sie drohen mit dem Rückzug ihrer Filiale aus dem Rohstoffland. Ausgerechnet die Globalisierer verweigern grenzüberschreitend die Fair-Play-Spielregeln – ein Paradox!

Diese Haftungspflicht für Auslandstöchter ist der Kernpunkt der Konzernverantwortungsinitiative, über die wir Ende November abstimmen. Jenseits von juristischen Spitzfindigkeiten lautet die simple Kernfrage für die Bürger: Soll ein multinationaler Konzern für eine schwere Menschenrechtsverletzung (zum Beispiel die Vertreibung von rechtlosen Bauern) oder einen grossen Umweltschaden (zum Beispiel eine grossflächige Cyanidvergiftung) seiner Tochtergesellschaft im Entwicklungsland haften, wenn er die Sorgfaltspflicht verletzt hat? Oder müssen die rechtlosen Geschädigten dort weiterhin ihre Schädigung erdulden?

Als konkrete Auswirkung des Gegenvorschlags werden die Konzerne jährlich eine PR-Farbbroschüre zur Selbstrechtfertigung vorlegen.

Soll für den Konzern eine Haftung gelten oder nicht? Dieser Punkt ist die fundamentale Differenz zwischen der Konzernverantwortungsinitiative und dem Alibi-Gegenvorschlag von Bundesrätin Karin Keller-Sutter. Letzterer verlangt von den Konzernen bloss eine Berichterstattung und eine undefinierte Sorgfaltspflicht, und zwar ohne neutrale Kontrolle und ohne Haftpflicht. Als konkrete Auswirkung werden die Konzerne jährlich eine PR-Farbbroschüre zur Selbstrechtfertigung vorlegen. Die Bundesrätin hatte diesen Gegenvorschlag aus der Küche von Economiesuisse erst in der letzten Parlamentsphase eingebracht, um den substanziellen Gegenvorschlag des Nationalrats abzuschiessen.

Economiesuisse als Interessenverband der Konzerne koordiniert den Kampf gegen jede Haftungsverantwortung der Konzerne. Ihre Abstimmungskampagne gegen die Initiative wird von der Agentur Furrerhugi in Bern durchgeführt, welche gleichzeitig auch als PR-Firma für den weltgrössten und umstrittenen Rohstoffkonzern Glencore wirkt. Ob Furrerhugi wohl ihre Kampagnenrechnung direkt an Glencore schickt?

Die NZZ-Redaktion führt seit Wochen eine beispiellose Kampagne gegen die Initiative und gegen die Kirchen. Sollen nun die Evangelisch-reformierte Kirche, die römisch-katholische Bischofskonferenz und die Freikirchen der Evangelischen Allianz stumm bleiben und dadurch ihre eigenen, direkt betroffenen Hilfswerke Brot für alle, Heks, Fastenopfer, Allianz-Mission alleinlassen? Zwanzig Jahre lang hatten sie zuvor mit Briefen, Bittschriften, Petitionen ein ethisches Konzernverhalten erfolglos angemahnt.

Zwanzig Jahre lang haben die Kirchen mit Briefen, Bittschriften, Petitionen ein ethisches Konzernverhalten erfolglos angemahnt.

Die Gegner der Initiative haben lange versucht, das Volksbegehren als linkes Machwerk darzustellen. Einer unterstellte sogar «Klassenkampf» und «Rechtsimperialismus». Diese Abstempelung ist ihnen nicht gelungen. Denn heute wird die Initiative nicht nur von den 130 gemeinnützigen NGOs und Hilfswerken, sondern auch von einem Komitee mit über 450 bürgerlichen Politikern und zudem von einem Unternehmerkomitee mit 300 Firmenchefs und KMU-Besitzern unterstützt. Die bürgerlichen Parteien sind in dieser Frage gespalten. Anstand mit Haftungspflicht gehört halt immer noch zu unserer urhelvetischen Identität. Deshalb ist so viel spontanes, ernsthaftes Engagement im Spiel.

Wie geht es weiter nach der Annahme der Konzernverantwortungsinitiative? Der Verfassungstext ist nicht direkt wirksam. Vielmehr wird das Parlament dann ein differenziertes, pragmatisches Ausführungsgesetz mit Schonung der KMU ausarbeiten. Das wissen auch jene Politiker und Journalisten, die jetzt mit absurden juristischen Spitzfindigkeiten bezüglich drohender Prozessflut, Zuliefererkontrollen und Beweislastumkehr von der Grundsatzfrage der Haftung ablenken wollen.

Keller-Sutter büsst Glaubwürdigkeit ein

In der Umsetzung werden Haftungsfälle nur wenige Rohstoffkonzerne und keine inländischen KMU treffen. Sollte eine Firma Hochrisikotätigkeiten im Ausland ausüben (zum Beispiel im Handel mit Blutdiamanten), wäre eine Haftungsklage möglich, die aber von einem Schweizer Gericht zu behandeln wäre und nur bei fehlender Sorgfalt zu einer Haftung führen würde. Die Behauptung von Bundesrätin Keller-Sutter, es würden 80’000 KMU betroffen sein, ist Unsinn. Denn die wenigsten KMU haben eine Tochter in einem Entwicklungsland. Diese absurde Zahl hat die Justizministerin ungeprüft aus einer Beurteilung der Gegner übernommen. Durch solche Tricks und durch ihre Konzernhörigkeit hat sie weitherum an Glaubwürdigkeit eingebüsst.

Der Widerstand einiger Konzerne und ihrer Wasserträger gegen die Mutter-Tochter-Haftpflicht ist völlig gegen den internationalen Trend. Sie ist gleichermassen anachronistisch und paradox wie seinerzeit die sture, unbelehrbare Verteidigung des Bankgeheimnisses und der ausländischen Steuerflucht.

Der renommierte Berner Unternehmer Peter Stämpfli schrieb in der NZZ: «Es geht nicht an, dass Schweizer Unternehmen hiesige Vorteile nutzen, im Ausland aber in einer Weise tätig sind, die wir hier nie tolerieren würden. Für Menschenrechtsverletzungen und krasse Umweltschäden gilt es, die Konzerne in die Pflicht zu nehmen.» So weit der Unternehmer. Dem kann man, helvetisch ausgedrückt, nur noch beifügen: «Es isch jetzt Zyt!»

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Dieser erweiterte Kolumnen-Text wurde publiziert auf TA-Online am 3. 11. 2020.

Print-Kolumne , gekürzt, in Tages-Anzeiger und im Bund  am 3. 11. 2020.