Wir müssen den Europa-Stress offensiv bewältigen

Ausführlicher Text von Rudolf Strahm, für Kolumne in TA-Medien vom 6. 10. 2020

Der Stress war voraussehbar. Schon am Tag nach der Versenkung der SVP-Begrenzungsinitiative kam aus Brüssel die ultimative Forderung an den Bundesrat, das institutionelle Rahmenabkommens (InstA) sei nun schleunigst zu unterzeichnen. Das neue Powerplay wurde flugs von den eingebetteten Brüssel-Journalisten und von Brüssel-reisenden Parlamentariern mit dem üblichen, drohenden Unterton weitergeleitet.

Zuvor wagte alt Bundesrat Johann Schneider-Ammann in der NZZ eine kritische Stellungnahme zum Abkommen und erhielt sofort Schelte aus seiner Partei und von der NZZ, obschon er sich mit seiner Warnung vor der EU-Dominanz seit 2018 treu geblieben war. Parteien neigen dazu, ihre Veteranen abzustrafen, wenn sie mal aus dem Amt geschieden sind und wieder öffentlich selber denken.

Auch der nunmehr veröffentlichte August-Brief der vier Sozialpartner-Verbände an den Bundesrat und ebenso die vernichtende Einschätzung des CVP-Chefs Gerhard Pfister haben die Aussichtslosigkeit des vorliegenden Abkommenstexts akzentuiert.

Jetzt ist es schwieriger geworden, die Kritiker des InstA in die Schmuddelecke der SVP und der Abschotter zu verbannen. Ich erhoffe mir ab jetzt eine offenere Auseinandersetzung jenseits der lähmenden Abgrenzungspflicht gegenüber den Kritikern.

Diese Ausweitung des politischen Spielfelds sollte dem Bundesrat Gelegenheit verschaffen, dem neuen Unterhändler jetzt klare Änderungen zum Abkommenstext aufzutragen. Seit der Abkommenstext vom November 2018 vorliegt, drückte er sich vor einer klaren Stellungnahme. Er spielte auf Zeit. Sechs der Sieben wollten ihren Tessiner Kollegen nicht in den Regen stellen. Sie ärgerten sich aber gewaltig über das eigenmächtige Vorprellen von Roberto Balzaretti.

Um Zeit zu gewinnen, veranstaltete der Bundesrat eine Vernehmlassung bei Parteien und Verbänden. Daraus resultierte der hilflose Wischiwaschi-Konsens, dass man von Brüssel „Klärungen“ und „Präzisierungen“ zu den politisch neuralgischen Fragen verlangte, aber keine expliziten Forderungen zur Abänderung des Vertragstexts stellte. Das umstrittenste Problem, nämlich die Unterstellung des Abkommens unter die Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs EuGH, wurde sogar gänzlich ausgelassen. Das rächt sich jetzt. Diese Unterlassung klarer Änderungsanträge hat die Verhandlungssituation der Schweiz nur verschlechtert und wirkt sich auch heute aus. Der Ärger der EU über solche Verzögerungstaktik ist irgendwie nachvollziehbar.

Aufgrund des Powerplay aus Brüssel sind jetzt drei folgende Schritte der Regierung unausweichlich:

Erstens muss der Bundesrat die Personalfrage endlich klären. Bundesrat Ignazio Cassis ist vor einem Monat im Bundesrat mit seinem Antrag gescheitert, Balzaretti zum Super-Staatssekretär und gleichzeitig zum Chef der weiteren Verhandlungen zu ernennen. Von links bis rechts ist klar: Balzaretti hat in Brüssel und in Bern seine Glaubwürdigkeit verspielt. Es braucht einen neuen, harten Schweizer Unterhändler, der direkt an den Bundesrat und den EDA-Chef, und nicht an Balzaretti, rapportiert.

Zweitens muss Bern jetzt konkrete Abänderungsvorschläge zum Abkommenstext einbringen. Auf „Klärungen“ und „Präzisierungen“ aus Brüssel warten führt die Schweiz weiter in die Defensive und vergrössert den Gesichtsverlust der Regierung. Eine Änderung des vorliegenden Abkommenstextes ist unausweichlich – bloss protokollarische Interpretationen oder sektorale „Immunisierungen“ (das neue Zauberwort) bringen sicherlich kein Vertrauen.

In einem dritten Schritt wird der Bundesrat letztlich entscheiden müssen, wo er das Abkommen scheitern lassen will: Entweder wird es auf Stufe Bundesrat durch eine mutige Nicht-Paraphierung gestoppt und später neu verhandelt. Oder man lässt die Ratifizierung des vorliegenden Texts im Parlament scheitern. Oder, als dritte Variante, würde die Volksabstimmung das Desaster herbeiführen. Es wäre ja zwingend ein Volks- und ein Ständemehr für die Annahme notwendig. Plakativ-helvetisch ausgedrückt, lautet heute die unausweichlich Gretchenfrage: Wer übernimmt den Schwarzen Peter?

Ich denke, die Schweiz muss sich durchringen, die zukünftigen Spielregeln und Normen, die den europäischen Binnenmarkt im engeren Sinn betreffen, dynamisch zu übernehmen (zum Beispiel im Handels- und Kapitalverkehr, in der Verkehrs-, Telecom- und Cyberpolicy, ohne abschliessende Aufzählung). Aber im Bereich der Personenfreizügigkeit und bei der Unionsbürgerschaft, welche ja weit über die Arbeitsmarktfrage hinausreicht und unser ganzes Sozialsystem tangiert, kommt die dynamische Übernahme mit Einbezug des EuGH schlicht nicht in Frage.

Ein Schiedsgericht jedoch, mit der Befugnis von angemessenen Sanktionen, ist akzeptabel und gehört zu einem völkerrechtlichen Vertrag. Ich denke auch, man sollte – wie dies der ETH-Professor und ehemalige Staatssekretär Michael Ambühl vorschlägt — die Schweizer Beiträge an die Osteuropahilfe („Kohäsionsmilliarde“) und an die Migrationspolitik („Frontex“) freigeben und allenfalls aufstocken, um nicht ständig von Brüssel als „Rosinenpicker“ gebrandmarkt zu werden.

Das Pièce de Résistance ist indes die Unterwerfung des ganzen Abkommens unter die Jurisdiktion des EuGH. Dieser ist keine neutrale Instanz, sondern das politische Parteigericht der EU-Staaten. Der EuGH dient in der EU nicht bloss der Rechtsauslegung, sondern er entscheidet über die Weiterentwicklung der Integration. Traditionell entscheidet er arbeitnehmerfeindlich, weil er den freien Personenverkehr als neoliberales Projekt höher gewichtet als den Arbeitnehmerschutz.

Zum Vergleich: Das umfassende Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada schliesst den EuGH vollständig aus. Auch die Briten wollen das nicht. Eine Studie des ETH-Professors Richard Senti zeigt auf, dass von 40 untersuchten Freihandelsabkommen kein einziges die Streitschlichtung der Gerichtsbarkeit der Gegenpartei unterwirft, wie es das InstA mit der Schweiz vorsieht. Einzige Ausnahme ist jenes zwischen EU und Ukraine, weil letztere als Beitrittskandidatin gilt. Aber der übliche Streitschlichtungsmechanismus bei allen andern Abkommen läuft über ein paritätisches Schiedsgericht ohne EuGH.

Das InstA ist, wie es vorliegt, nicht eine „Fortsetzung des bilateralen Wegs“, wie uns unsere EU-Troubadours vormachen, sondern verfahrensrechtlich ein Bruch mit allen bilateralen Verträgen. Mit der zwingenden Weisung des EuGH und der Super-Guillotineklausel würden in Zukunft freie Volksentscheide der Schweiz faktisch verunmöglicht. Das InstA ist ein irreversibler Souveränitätstransfer an Brüssel für zukünftige Regulierungen, deren Inhalt wir heute noch gar nicht kennen!

Meine Hauptsorge gilt nach wie vor dem Lohnschutz und dem Schutz unserer Sozialwerke vor der Unionsbürgerrichtlinie. Das Powerplay Brüssels kommt nicht von den EU-Mitgliedländern. Das InstA mit der Schweiz ist für sie unbedeutend. Der Druck kommt einerseits von den Jakobinern in der EU-Kommission vom Typus eines Barnier und anderseits von den Handwerkskammern in Baden-Württemberg.

Über 4000 süddeutsche gewerbliche Firmen drängen mit billigen polnischen und rumänischen Arbeitern in die Schweiz. 2018 zählte man bei uns 40‘000 entsandte Arbeiter, die über solche Firmen in der Schweiz Aufträge ausführten. Die Schweizer Aufsichtsbehörden registrierten dabei 1300 Verstösse gegen die Lohnregeln in der Schweiz.

Der Strippenzieher der ständigen Drohungen gegen die Schweiz ist der Lobbyist und Anwalt Andreas Schwab, der die süddeutschen Arbeitgeber in Brüssel vertritt. Als EU-Parlamentarier und Interessenvertreter lobbyiert er ständig gegen die Schweizer Lohnschutzmassnahmen. Im neuen EU-Parlament konnte der rechte CDU-Politiker den Vorsitz des parlamentarischen Schweiz-Ausschuss an sich reissen und seither nutzt er seine Machtposition zur Durchsetzung der Interessen seiner deutschen Klientschaft. Die Gewerkschaften haben in der Broschüre „Der Angriff der süddeutschen Arbeitgeber auf den Schweizer Lohnschutz“ ihre Erfahrungen dazu veröffentlicht (siehe unter www.sgb.ch)

Wir müssen uns auf einen neuen innenpolitischen Stress einstellen. EU-Nadelstiche wie bei der Börsenäquivalenz oder bei der Medtech-Zulassung haben dies vor Augen geführt. In beiden Fällen konnte man allerdings interne Lösungen zur Schadensvermeidung vorbereiten.

Was können wir Bürger in dieser Situation tun? –

Verzichten wir auf Ausgrenzungen und die Placierungen der Kritiker in die Schmuddelecke der Auslandsfeindlichkeit! Die Medien, allen voran die SRG, müssen von nun an in der heissen Phase einen Pluralismus von Einschätzungen von Europarechtlern zulassen. Jetzt ist die Zeit vorbei, dass die zwei idealistischen Rechtsprofessorinnen Astrid Epiney und Rita Tobler als SRG-Hausexpertinnen ihre einseitige Deutungshoheit über die Abkommensinhalte allein ausüben. Sie sollen sich äussern, aber die SRG hat ihren Statements die Einschätzung anderer Juristen gegenüber zu stellen!

Den Bürgern empfehle ich, sich die Zeit zu nehmen und einmal den vorliegenden 35-seitigen Abkommensentwurf, den das EDA in seinem Datenarchiv gehörig versteckt hat, im Originaltext herunter zu laden und dazu eine eigene Meinung zu bilden (Google-Suche unter: institutionelles Abkommen EDAà Dokumente: Entwurf des Abkommenstextes)

Wer den Aufwand dazu nicht aufzubringen vermag, sollte immerhin den übergreifenden Kernsatz in Artikel 10, Absatz 3 des Abkommensentwurfs zur Kenntnis nehmen: „Das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union ist für das Schiedsgericht verbindlich.“ Dieser Kernparagraph spricht für sich.

(Dies ist die ausführlichere Fassung des Texts von Rudolf Strahm, der als Kolumne im Tages-Anzeiger, im Bund, auf TA-Online am 6. 10. 2020 publiziert ist.)