Porträt von Rudolf Strahm zum 70. Geburtstag von Bundesrat Ueli Maurer——-
In jüngeren Jahren wird er als Politiker karikiert, persifliert, parodiert und als “Ueli der Knecht” verspottet. Keiner ist je so verkannt und falsch eingeschätzt worden wie Bundesrat Ueli Maurer. Am 1. Dezember 2020 wird er 70-jährig.
Die drei Jahrzehnte, die Ueli Maurer in der schweizerischen Politik wirkte, sind quasi das Spiegelbild der gesellschaftlichen Entwicklung der Schweiz: so etwa die Kräfteverschiebung im bürgerlichen Lager, weg von der FDP und der CVP hin zur SVP. Oder das Abbiegen des politischen Mainstreams weg vom idealistischen Internationalismus hin zur nationalen Orientierung. Oder auch die Entfremdung zwischen den intellektuellen und globalisierten Klassen und der berufspraktischen, ländlichen Arbeitsbevölkerung. Ueli Maurer war ein Protagonist bei diesem Wandel.
Unterwegs in Dorfbeiz-Hinterzimmern
Ueli Maurer und ich wurden 1991 gleichzeitig in den Nationalrat gewählt. Wir fanden uns anfänglich in der Umweltkommission wieder. Der junge Zürcher Bauernpolitiker suchte anfänglich eher unbeholfen nach Themen auf Bundesebene. Er begnügte sich mit Anfragen zu nachwachsenden Rohstoffen, zu Gatt-Regeln für die Landwirtschaft oder zum Ozon an Tankstellen.
Nationale Beachtung erhielt Maurer erst 1996, als er als Präsident der Schweizerischen Volkspartei SVP die Nachfolge des Thurgauers Hans Uhlmann antrat. Ganze 12 Jahre wirkte Maurer als Parteipräsident. Vielleicht wird die Geschichtsschreibung ihm diese Schaffensperiode als die markanteste in seinem Leistungskatalog attestieren. Denn in dieser Zeit trieb er in der SVP das voran, was man als „Organisationsentwicklung“ bezeichnen kann.
Er gründete schweizweit, die Romandie inbegriffen, sage und schreibe 600 neue SVP-Sektionen. Abend für Abend war er unterwegs in Dorfbeizen-Hinterzimmern und Mehrzweckhallen zwecks Ermutigung zur Gründung neuer lokaler SVP-Sektionen. Meist war dies gegen die örtliche CVP und die Liberalen gerichtet. Und dies alles leistete er neben seiner beruflichen Tätigkeit als Geschäftsführer des Zürcher Bauernverbands, neben dem Nationalrats-Mandat und neben der (wohl weniger häufigen) Familienpräsenz.
In seiner Zeit als Parteipräsident konnte die SVP ihren nationalen Wähleranteil zwischen 1995 und 2007 von 14.9 auf 28.9% fast verdoppeln, während die FDP um 4% und die CVP und die SP um je über 2% schrumpften.
Als früherer SP-Zentralsekretär hatte ich Ueli Maurers geschickten und zähen Parteiaufbau immer mit Beklemmung beneidet. In der Periode, in der er die SVP präsidierte und umbaute, leistete sich die SP Schweiz den Luxus von vier Parteipräsidentenwechseln, begleitet von ideologischen Richtungskämpfen.
Während seiner Präsidiumsjahre verhöhnte man Maurer als Christoph Blochers „Wasserträger-Ueli“. Während Blocher als charismatische Figur im Rampenlicht stand, konnte Maurer still den Radar der intellektuellen Konfliktaustragung unterfliegen, oft belächelt, aber häufig auch verschont. Authentische Bescheidenheit und gespielte Biederkeit waren seine Schutzschilder.
Nach den Bundesratswirren um Samuel Schmid und Christoph Blocher wurde Ueli Maurer am 10. Dezember 2008 im dritten Wahlgang in den Bundesrat gewählt; dies mit bloss einer einzigen Stimme Vorsprung vor dem Sprengkandidaten Hansjörg Walter.
Recht trickreich
Maurers Einstieg als Vorsteher des VBS Anfang 2009 war nicht leicht. Sein Prestigekredit im Parlament hatte keine Polster. Das VBS war zuvor von Skandal zu Skandal geschlittert. Schon nur Loyalität und Disziplin im selbstherrlichen Offizierscorps herzustellen, brauchte Energie. Das Konzept „Weiterentwicklung der Armee“ mit einer Halbierung der Mannschaftsbestände und der Modernisierung der Führungsstruktur machte ihn zur Zielscheibe von oppositionellen pensionierten Obersten der Gruppe Giardino und ebenso von Traditionalisten in der eigenen Partei. Gleichzeitig stemmte er recht trickreich das VBS-Jahresbudget auf fünf Milliarden Franken hoch und reorganisierte den in Verruf geratenen (und bis heute umstrittenen) Nachrichtendienst.
Einen sichtbaren Prestigeverlust erlebte Maurer im Mai 2014 beim plebiszitären Absturz der Beschaffungsvorlage von 22 schwedischen Gripen-Kampfflugzeugen. Sie scheiterte mit 53% Nein-Stimmen. Allerdings zeigt uns die erneute Volksabstimmung von 2020 mit nur gerade 50,1% Ja-Mehrheit für die Flugzeugbeschaffung, dass in der Bevölkerung die Skepsis gegen die Flugwaffe recht dauerhaft und strukturell verankert ist.
Psycho-Druck der Europapolitik
Ich denke, der Wechsel Maurers ins Finanzdepartement 2016 war für ihn Befreiung und Neubeginn. Entgegen den Erwartungen seiner Partei beliess er im EFD die bisherigen Chefbeamten in ihren Funktionen. Mit Ausnahme der engsten Entourage verzichtete er darauf, die Kaderpositionen mit Parteisoldaten zu besetzen. Bei den jüngsten Kaderbesetzungen hat er gar eine „feministische Welle“ losgetreten: Bald gibt es im EFD eine Direktorin der Finanzverwaltung, eine Direktorin des Bundespersonalamts, eine Staatssekretärin für internationale Finanzfragen, eine Direktorin der Bundes-Pensionskasse, eine Präsidentin des Finma-Verwaltungsrats; – alle diese Frauen ausgewählt und vorgeschlagen von Maurer.
Ueli Maurer hatte als Finanzminister das Glück, bis Ende 2019 auf eine strukturell solide Finanzlage des Bundes abzustellen. Altlasten der Bankenkrise, der Steuerstreit mit den USA, mit der OECD, waren grossenteils von der Vorgängerin Evelyn Widmer-Schlumpf schon beseitigt worden. Doch viel Energie kostete ihn die – ebenfalls vom Ausland aufgezwungene – Unternehmenssteuerreform III. Sie wurde im Februar 2017 mit 59% Nein-Stimmen regelrecht abgeschmettert. Mutmasslich war diese Niederlage schon durch die früheren krummen Touren von ex-Finanzminister Hans Rudolf Merz bei der Unternehmenssteuerreform II vorbestimmt. Mit dem Überladen der Vorlage durch die FDP- und SVP-Fiskalhardliner war sie dann für den Absturz programmiert.
Es gehört zum flexiblen Pragmatismus und politischen Gespür Maurers, dass er sich gleich nach dieser Niederlage zusammen mit Ständeräten an eine neue, sozial ausgewogenere Kombination von Unternehmensteuer-Korrektur und AHV-Finanzierung machte. Diese STAF-Vorlage wurde zwei Jahre später mit einer Zwei-Drittels-Mehrheit angenommen. Mit einem Kraftakt musste sich Maurer allerdings vor der Volksabstimmung gegen die anti-etatistischen Dogmatiker in der eigenen Partei durchsetzen, wobei ihm seine starke Verankerung bei der SVP-Basis zugutekam.
Ueli Maurer ist kein Visionär mit starrem Kompass. Der Nichtakademiker verfügt über politische Begabung und Intuition zur originellen, schlauen Anpassung an politische Konstellationen. Mit seiner cleveren und vorausschauenden Gegenstrategie gegen die Piesackerei aus Brüssel mit ihrem angedrohten Entzug der Börsenäquivalenz hat er nicht nur Schaden von der Schweizer Börse abgewendet, sondern auch den Psycho-Druck in der schweizerischen Europapolitik vorläufig aufgefangen. Das war eine vorbildliche Vorspuraktion. Wenn heute die andern Departements-Chefs und die Bundesamts-Direktoren nicht ebenfalls solche vorbereitete Auffangpläne gegen zukünftige EU-Nadelstiche in der Schublade haben, vernachlässigen sie bestimmt ihre Amtspflichten!
Authentische Distanz
Mit ähnlichem Geschick und Cleverness operierte Maurers Departement im März 2020 mit der rasch aufgegleisten und mit den Banken abgestimmten Überbrückungsfinanzierung für pandemiebedingt notleidende Firmen. Das Finanzierungsmodell war elegant und rasch wirksam. Die „Financial Times“ würdigte diese „Swiss Solution“ dann international als vorbildlich.
Bei den Bundesrats-Beschlüssen zur Corona-Strategie stand Maurer, das ist kein Geheimnis, oft mit Änderungsanträgen in Opposition. Doch nach den Kollegiumsentscheiden vermittelte er die Beschlüsse loyal und oft plausibler und sogar lustvoller als alle Andern. Damit ist Maurer für Bürgerinnen und Bürger weit über den Kreis seiner konservativen Wählerschaft hinaus zur Vertrauens- und Identitätsfigur geworden, während er gegenüber Journalisten stets eine irritierende Reserviertheit pflegte. Mit seiner hämischen Abwehrformel „Kä Luscht“ gegen aufdringliche Frager schaffte er sich eine authentische Distanz und Unabhängigkeit. Diese Formel ist symptomatisch fast zum Gegenstück zu Adolf Ogis geflügeltem „Freude herrscht“ geworden.
Viele erinnern sich, wie der frisch gewählte Bundesrat Maurer noch zu Beginn seiner Amtszeit versprochen hatte, er werde die Bundeskasse nicht mit unnötigem Herumreisen belasten. Die Schweiz sei ohnehin von Feinden umzingelt. Doch seither ist Maurer dutzende Male ins Ausland gereist, allein in seinem ersten Bundespräsidialjahr 2013 waren es 28 Auslandbesuchte. Und seither war er zu Gast bei Putin, bei Trump, bei Xi Jinping in Sachen Seidenstrasse, am Königshof in Saudiarabien in Sachen Waffengeschäften und G-20-Vorbeitung. Der Staatsmann in ihm ist perfekt geworden! Ueli Maurer und Simonetta Sommaruga haben mit ihren wichtigen Aussenkontakten den freisinnigen Schwerenötern im Aussendepartement EDA längst den Rang abgelaufen.
Einige ungelöste Probleme
Sollte Bundesrat Maurer jetzt oder bald zurücktreten, müsste sein Nachfolger, gleich welcher Partei, allerdings auch einige ungelöste Strukturprobleme des EFD erben, Probleme, mit denen er sich bisher nicht die Finger verbrennen wollte oder konnte. Etwa die Langzeitaufgabe, die aufgelaufenen, pandemiebedingten Schulden von Bund und Kantonen wirtschaftsverträglich unter Beizug einer neugeordneten Gewinnausschüttungspraxis von Erträgen der Schweizerischen Nationalbank abzutragen. (Die SNB verwaltet heute rund eine Billion Franken!). Oder auch den breit akzeptierten Handlungsbedarf, um die veraltete, aus dem Gründungsjahr 1907 stammende SNB-Führungsstruktur zu reformieren und zu verbreitern. Oder die Reform des interkantonalen Finanzausgleichsmechanismus, welcher angesichts der Jahr für Jahr wachsenden innerschweizerischen Disparitäten nicht ein weiteres Jahrzehnt überstehen wird.
Ich denke, jeder Nachfolger wird es schwer haben, für solche finanzpolitischen Zukunftsaufgaben so viel Durchsetzungsvermögen aufbringen zu können, wie der amtierende Bundesrat Ueli Maurer. Dabei kommen ihm seine ausdauernde Sportlichkeit und die langjährige Erfahrung zugute.
Rudolf Strahm
Veröffentlichung in der Weltwoche Nr. 48.20 – vom 26. 11. 2020, Seite 34-35