Masseneinwanderungsinitiative: jetzt muss Schneider-Ammann die Hausaufgaben machen

Tages-Anzeiger – Dienstag, 11. Februar 2014

«In Zukunft wird die Zuwanderung durch Bundesbern gesteuert und nicht mehr durch die Wirtschaft», erklärte Justizministerin Simonetta Sommaruga am Abstimmungssonntag im Namen des Gesamtbundesrats. Was, fragen sich nun viele Bürger, ist jenseits von Groll, Schuldzuweisung, Pessimismus und Besserwisserei nach Annahme der Zuwanderungsinitiative zu tun, um mit einem Kontingentssystem wieder Vertrauen auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen? Von «Ordnung im Stall» spricht Wirtschafts- und Bildungsminister Johann Schneider-Ammann in diesem Zusammenhang gern.

Die Abstimmung vom Sonntag lässt den Politikern keine Verschnaufpause. Bereits am 18. Mai findet eine neue Volksabstimmung statt, die migrationspolitisch, wirtschaftlich und ethisch Weichen stellt. Es geht um die Ein- führung eines gesetzlichen Mindestlohns für alle. Die grundsätzliche Position lautet: Wer bei uns lebt und arbeitet, soll mit einer Vollzeitstelle davon leben können.

Das tönt banal und selbstverständlich, aber es ist ein Test für den Gemeinsinn. Das Anliegen stösst beim Arbeitgeberverband und bei liberalen Ökonomen auf kategorische Ablehnung, ja ideologischen Beton, obschon der geforderte Mindestlohn die allermeisten Arbeitgeber gar nicht tangiert, weil sie längst höhere Löhne bezahlen.

Die Volksinitiative verlangt einen gesetzlichen Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde für alle. Zudem möchte sie, dass mehr Gesamt- arbeitsverträge abgeschlossen werden; heute decken sie nur 45 Prozent aller Beschäftigten ab. Die Initiative ist flexibel: Bei «besonderen Arbeitsverhältnissen » sollen Ausnahmen möglich sein. Tiefere Lohnsätze sind denkbar für Lehrlinge, Praktikanten, Kurzzeiteinsätze, Freiwilligendienste oder Problemregionen wie das Mendrisiotto, dessen Grenzgänger zu Hause in Italien dreimal tiefere Mieten zahlen als die einheimischen Tessiner. Nachdem auch Deutschland aus zuwanderungspolitischen Gründen einen gesetzlichen Mindestlohn eingeführt hat, ist die Schweiz das einzige Land in Europa und Nordamerika, das keinen solchen Schutz für jene am unteren Ende der Lohnskala kennt.

22 Franken brutto pro Arbeitsstunde entsprechen bei einem normalen Arbeitsverhältnis mit 42 Wochenstunden, Ferienvergütung und 12 Monatslöhnen knapp 4000 Franken, bei 13 Monatslöhnen rund 3700 Franken brutto.

Das scheint relativ viel, aber nach Abzug aller Sozialversicherungsbeiträge bleiben vielleicht 3200 Franken monatlich übrig. Kann man in einer Schweizer Stadt davon leben? Kann man davon leben, wenn die Hälfte allein für die Miete draufgeht? Auf diese Frage angesprochen, geben die liberalen Basler Professoren George Sheldon und Peter Bernholz die zynische Antwort, es brauche dann halt staatliche Lohnzuschüsse.

Welche Arbeitgeber sind überhaupt von einem gesetzlichen Mindestlohn betroffen? Die Exportwirtschaft sicher nicht. Die zahlt ausnahmslos weit mehr als den Mindestlohn. Ebenso wenig das Baugewerbe, das den Bauherren ohnehin 40 bis 100 Franken Arbeitskosten pro Stunde verrechnet. Auch Migros, Coop, Denner, Aldi und Lidl und das einheimische Gastgewerbe zahlen 22 Franken oder mehr.

Betroffen wären schwarze Schafe: internationale Bekleidungsläden und Schuhkonzerne wie Reno und Bata oder die Kebab- und Burger-Gastronomie. Betroffen wären auch SVP-nahe Branchen, zum Beispiel die Landwirtschaft, der Gemüse- und Weinbau, aber auch die Reinigung oder die Pflege zu Hause in Fällen, in denen die Familien hohe Spitex- oder Heimkosten durch Anstellung einer billigen Hilfskraft aus Osteuropa umgehen. Es verwundert denn auch nicht, dass SVP-Präsident Toni Brunner die Einführung eines Jahresaufenthalter- Status ohne den legitimen Familiennachzug fordert und generell Lohnschutzmassnahmen bekämpft. Ein Unsinn: Mit der Tiefstlohnzuwanderung werden diese wenig produktiven Branchen subventioniert und ihre Strukturschwäche so perpetuiert.

Liberale Lehrbuchökonomen wie George Sheldon, der Hofgutachter des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco), behaupten, Mindestlöhne würden zu mehr Arbeitslosen führen. Das mag in seinem Heimatland, den USA, stimmen. Aber die Tiefstlohnarbeitenden, die bei uns für Stundenlöhne von weit unter 20 Franken krampfen, werden ständig neu in Osteuropa und auf der Iberischen Halbinsel rekrutiert. Eine Lohnuntergrenze hätte somit eine selektive Wirkung, was die Zuwanderung betrifft.

Man hätte die Mindestlohnfrage mit Blick auf die Massenzuwanderungsinitiative schon vor dem letzten Abstimmungssonntag mit einem Gegenvorschlag flexibel ausgestalten können. Das wurde im Bundesrat und vom Seco vereitelt. Verantwortlich dafür ist Bundesrat Johann Schneider- Ammann.

Man könnte dem Mangel an Ärzten, Pflegepersonal, Informatikern, Ingenieuren durch bessere Steuerung und Anreize im Ausbildungssystem begegnen. Das wurde verpasst. Nun könnte man die Zuteilung von Fachkräftekontingenten mit einer Ausbildungspflicht in der Schweiz verbinden – Ideen dazu wären vorhanden. Verantwortlich dafür: Bundesrat Johann Schneider-Ammann.

Man könnte der offensichtlichen Benachteiligung von Schweizern mit höherer Berufsbildung auf dem Stellenmarkt durch Titelaufwertung entgegenwirken und so in der Mittelschicht den Argwohn gegen Konkurrenz durch Zuwanderer mildern. Das wurde bisher verpasst. Verantwortlich dafür: Bundesrat Johann Schneider-Ammann.

Man könnte den preisgünstigen Wohnungsbau mit effektiven Fördermassnahmen in Regionen mit Wohnungsnotstand vorantreiben, statt mit einer Formularpflicht symbolisch die Mietzinsanfechtung ermöglichen, die dann doch niemand ausnützen kann. Auch das wurde unterlassen. Verantwortlich: Bundesrat Johann Schneider-Ammann.

Der Schlüssel zu den meisten flankierenden Massnahmen in unserem Land liegt beim Wirtschaftsund Bildungsdepartement von Johann Schneider-Ammann. Am Abstimmungssonntag stellte er sich den drängenden Journalistenfragen nicht. Er blieb auf Tauchstation. Eine Strategie für die Zukunft ist das nicht. Jetzt muss sich der Gesamtbundesrat darum kümmern.

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