Den Fachkräftemangel bekämpfen
Grosses Arbeitskräftepotential im Inland.
Rudolf Strahm in „Schweiz am Sonntag“ Nr.7 vom 16.2.2014.
Mit der Rede vom „Fachkräftemangel“ ist ein vieldeutiger, oft missverstandener und in der jüngsten Abstimmung auch missbrauchter Begriff im Gebrauch. Ein „Fachkräftemangel“ wird oft von jenen beklagt, die am meisten zu dessen Behebung beitragen könnten.
Die Personenfreizügigkeit hat zwar den Fachkräftemangel offengelegt, indem man sieht, wie viel Personal im Ausland rekrutiert wird. Aber sie hat den Fachkräftemangel gleich wieder zugedeckt, indem man Leute aus dem Ausland holt, statt im Inland die Ausbildung zu fördern oder zu steuern.
Wir haben sektoral tatsächlich spezifische Personalengpässe. Doch analysieren wir sie detaillierter, entpuppen sie sich als hausgemachtes Versagen der Bildungspolitik.
Stichwort Ärztemangel
Die Schweiz hat tatsächlich einen Mangel an Medizinern: 50 bis 70% der jüngern Spitalärzte sind im Ausland ausgebildet worden. Die hiesige Ausbildungslücke ist die Folge des langjährigen Numerus Clausus an den schweizerischen medizinischen Fakultäten. Im vorletzten Jahr haben sich 3200 Schweizer Maturaabsolventen und –absolventinnen für das Humanmedizinstudium angemeldet, aber es standen nur 630 Studienplätze zur Verfügung. Nun will man deren Zahl um bloss hundert aufstocken. Man wollte Kosten sparen, denn ein Studienjahr für Mediziner kostet den Staat über 100’000 Franken. 2011 wurden 1200 Mediziner im Ausland rekrutiert. Damit entfiel der Druck auf interne Reformen der Medizinerausbildung.
Die medizinische Versorgung in der Schweiz benötigt etwa die Hälfte Allgemeinpraktiker für die hausärztliche Grundversorgung und die andere Hälfte Spezialärzte, allerdings mit regionalen Unterschieden. An den medizinischen Fakultäten unterrichten und forschen heute Dutzende von Professoren in Spezialgebieten, aber es gibt nur je eine oder zwei Dozentenstellen in Hausarztmedizin, und auch diese nur auf Druck von aussen. In der Spezialmedizin lässt sich mit wissenschaftlichen Publikationen in medizinischen Fachjournalen mehr Prestige herausholen als mit Allgemeinmedizin. Die Politik gewährt den Universitäten die viel gepriesene „Hochschulautonomie“. Je autonomer sich öffentlich finanzierte Hochschulen bewegen, desto mehr richten sie sich nach den Standesinteressen ihrer Professoren und nicht nach den gesellschaftlichen Bedürfnissen. Bildungsminister Johann Schneider-Ammann schiebt die Verantwortung ab auf den „kooperativen Föderalismus“ der Kantone.
Stichwort Pflegepersonal
Ein Jahrzehnt lang wurde in der Schweiz fast kein Pflege- und Betreuungspersonal ausgebildet. Bis Mitte der 1990er Jahre oblag die Ausbildung von Krankenschwestern den Kantonen und den Ausbildungsspitälern des Roten Kreuzes. 1996 erklärte der Bund, die Pflegeausbildung dem Berufsbildungsgesetz unterstellen zu wollen, die Kantone und Rotes Kreuz zogen sich aus der Pflegeausbildung zurück, die Gesundheitsdirektorenkonferenz vernachlässigte ihre Ausbildungsvorgaben für die Spitäler. Und erst 2004 wurden Fachangestellte Gesundheit (Fage) und noch viel später Fachangestellte Betreuung (Fabe) ausgebildet. Heute ist die Ausbildung im Gang, ist aber immer noch zu tief.
Nach dem Lehrstellenbarometer fanden letztes Jahr 4000 ausbildungswillige jugendliche Schulabgängerinnen keine Lehrstelle im Gesundheits- und Sozialbereich. Man müsste jeden Spitaldirektor, der jüngst per bezahltes Inserat den Fachkräftemangel beklagt hat, mit der Frage konfrontieren, wie viele Lehrstellen seine Institution anbietet. Im Spitalbereich wären derzeit 8 Ausbildungsplätze pro 100 Vollzeitäquivalente Beschäftigte nötig.
Auch im Betreuungsbereich in Alters- und Pflegeheimen gibt es eklatanten Personalmangel. Es gäbe hier ein ungenutztes Potential auszuschöpfen. Das Schweizerische Rote Kreuz hat in einigen Kantonen ein Programm zur Nachholbildung von Pflegehelferinnen aufgegleist. Diese nachholende Ausbildung für Wiedereinsteigerinnen und Ausländerinnen ist eine Pionierleistung. Anfänglich musste sie gegen alle Widerstände der Bürokratie und des Berufsverbandes erkämpft werden, der sich aus standespolitischen Gründen jeder niederschwelligen Nachholbildung widersetzt hatte.
Stichwort Ingenieur- und Informatikermangel
Wir haben nicht generell einen Akademikermangel, sondern einen einseitigen Fächermix in den Universitäten am Arbeitsmarktbedarf vorbei. Nur 32% der Universitäts- und ETH-Studierenden sind im Bereich MINT, also in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik, Bauwesen in Ausbildung, und von diesen sind ein Drittel ausländische Studierende. Wir hatten 2012 aber 4200 Uni-Studierende im Hauptfach Geschichte, obschon es jedes Jahr nur einige Dutzend Fachhistoriker braucht. Wir hatten zudem 8600 Studierende in Psychologie, 4400 in Politologie, 2500 in Kommunikationswissenschaften, 1150 in Ethnologie, alles interessante Fächer, aber kaum berufsbefähigende.
Das Problem liegt in der Sprachlastigkeit des Zugangs zum Gymnasium. Jugendliche mit Neigung zu mathematisch-technischen Fächern, die nicht auch stark sind in Sprachfächern, finden den Zugang ins Gymnasium nicht. Der Notenmix hat eine enorm selektionierende Wirkung. Auch dieses Politikum ist bekannt, aber niemand ergriff die Führung zur besseren Steuerung.
Zukunft: Ausländerkontingente mit Ausbildungspflichten
Die sogenannte „Fachkräfteoffensive“, die das Wirtschafts- und Bildungsdepartement von Johann Schneider-Ammann im letzten Herbst präsentierte, ist voll von bildungspolitischem Geschwurbel, aber leer an konkreten neuen Massnahmen und Führungsentscheiden.
Ich könnte mir vorstellen, dass in Zukunft eine Zuteilung von Kontingenten an Migrationspersonen verbunden wird mit einer Ausbildungspflicht: Zum Beispiel, dass man der Spitalszene so und so viele tausend Migrationspersonen zuteilt mit der Auflage, dass gleichzeitig acht bis zehn Ausbildungsplätze pro hundert Beschäftigte angeboten werden.
Mit einer solchen Lösung ist das Fachkräfteproblem nicht schlagartig vom Tisch. Aber in zehn Jahren würde es sich entschärfen. Mit der bisher gepflegten Laisser-faire-Haltung allerdings kommen wir nie aus den Engpässen heraus.
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