Wer soll die SP in die Zukunft führen? Rudolf Strahm,
langjähriger SP-Nationalrat und Parteisekretär, sagt, wie es
mit der Partei weitergehen soll.
Interview in Tages-Anzeiger, Bund, Basler Zeitung, TA-
Online vom 16. 11. 2019

Manche Jungpolitiker der SP hätten zu wenig Bezug zur Lebenswelt der Menschen, sagt Rudolf Strahm. Bild: Franziska Rothenbühler
Konnten Sie der
grünen Welle widerstehen beim Ausfüllen des Wahlzettels?
Ja. Ich habe
traditionellerweise die SP-Männerliste abgeschickt – und darauf noch ein paar Grüne panaschiert, die
ich selber kenne und die ihrer Partei guttun. Die ganze Liste wechseln: nein.
Sie haben im
Sommer prognostiziert, dass die Grünen zur grossen fünften Kraft werden
könnten. Was bedeutet das für unsere Konkordanz?
Die
Kräfteverschiebung ist tatsächlich aussergewöhnlich und lässt Politologen und
Journalisten ventilieren. Das Konkordanzsystem ist aber nicht gefährdet. Und
zwar, weil es mit den Volksrechten einen starken institutionellen Zwangsfaktor,
einen Stabilisator,
eingebaut hat. Sobald ein Lager durchmarschieren will, wird es durch Referenden
gestoppt. Das hält das System stabil und in der Balance.
«Ich bin der Meinung, dass man den Grünen möglichst schnell eine Bundesratsbeteiligung ermöglichen muss.»Rudolf Strahm
Also spielt es
gar keine Rolle, wer im Bundesrat sitzt?
Doch, natürlich. Es
ist tief in unserem Wertesystem verankert, dass möglichst alle Kräfte in der Regierung
vertreten sein sollten – das gilt für links und rechts. Darum bin ich auch der
Meinung, dass man den Grünen möglichst schnell eine Bundesratsbeteiligung
ermöglichen muss.
Die SVP hat
auch eine Legislatur
lang warten müssen.
Ja, aber das schadete
der Glaubwürdigkeit des gesamten Systems. Der Bundesrat mit zwei SVPlern ist
glaubwürdiger, weil repräsentativer als damals, als ein gewichtiger
Bevölkerungsteil zu wenig vertreten war und sich verletzt fühlte. Ein Bundesrat mit einer
grünen Vertretung wäre es nach diesen Wahlen auch.
Also plädieren
Sie dafür, Ignazio Cassis abzuwählen?
Ja, das müsste man in
Kauf nehmen. Das ist schmerzhaft für die Partei, für die Person natürlich auch
– und es widerspricht eigentlich unserer Tradition. Aber unsere Schonungskultur darf nicht so weit
gehen, dass am Schluss wichtige Bevölkerungsteile von der Regierung
ausgeschlossen sind. Kommt hinzu, dass selbst viele Bürgerliche dem
geschwätzigen Aussenminister nicht nachtrauern würden, weil er ihnen nichts bringt.
«Diese Jungen haben ein anderes Wertesystem, sind recht elitär, haben wenig Bezug zur Arbeits- und Lebenswelt.» Rudolf Strahm
Die Grünen im Hoch, Ihre SP im Tief. Warum wurde die SP von der
Klimawelle so überrollt?
Das hat nur zum Teil
mit der Klimawelle zu tun, vermute ich. Bei diesen Wahlen ging es auch ganz
grundsätzlich gegen alle etablierten Volksparteien, gegen das Establishment – ganz nach dem
europäischen Trend. Die Leute wollen das andere, das Neue. Darum haben die Franzosen Macron gewählt,
darum ist der junge Kurz wieder Kanzler in Österreich, darum geht es den Grünen
in Deutschland so gut. Den Trend zum Unverbrauchten und Jungen sieht man auch
innerhalb der SP, wo es viele vom Hörsaal direkt in den Ratssaal gespült hat, wie das der ehemalige SP-Präsident Helmut
Hubacher formuliert hat. Diese Jungen haben ein anderes Wertesystem, sind recht
elitär, haben wenig Bezug zur Arbeits- und Lebenswelt und merken nicht, dass
sie an den lebensweltlichen Bedürfnissen der Menschen vorbeipolitisieren.
Das ist
beunruhigend für die SP: Sie sehen die Partei im gleichen Trend wie ihre
europäischen Schwesterparteien?
Ja, durchaus. Das ist
eine schmerzhafte Selbstreflexion, der man sich halt jetzt stellen muss. Der Trend geht weg von der
sozialen Frage, was mich extrem schmerzt. Das hat natürlich auch mit der
Konjunktur zu tun. Am stärksten war die SP immer nach wirtschaftlichen Krisen,
Mitte der 70er-Jahre zum Beispiel oder Mitte der 90er-Jahre. Heute zahlt aber die Sozialdemokratie wegen der
Migrationsproblematik ganz klar den höchsten politischen Preis.
Wenn der Trend
weg von der sozialen Frage geht, steht das Herzstück der SP auf dem Spiel.
Unser
sozialdemokratischer Standpunkt, die soziale Frage, darf nicht zur Debatte stehen.
Selbstverständlich muss sich die SP auch für liberale gesellschaftliche Werte
einsetzen, für Migranten,
Minderheiten, Homosexuelle,
Gendergerechtigkeit und vermehrt auch für ökologische Reformen. Aber das
Alleinstellungsmerkmal, das die Existenz der Sozialdemokratie rechtfertigt, sind und bleiben die
traditionellen sozialpolitischen Kernthemen: Löhne, Renten, Arbeitsplätze,
Wohnen, berufliche Ausbildung und Berufskarrieren von Frauen und Männern.
«Vielleicht hat die SP gerade dank ihrer Erfolge für den Sozialstaat ihre historische Bedeutung teilweise eingebüsst.»Rudolf Strahm
Diese sind in
der Hochkonjunktur weniger gefragt. Geht es der Schweiz zu gut für die SP?
Im Moment scheinen
nachmaterialistische Werte bei der gebildeten Mittelschicht tatsächlich attraktiver. Vielleicht
ist es auch so, dass die SP gerade dank ihrer Erfolge für den Sozialstaat ihre
historische Bedeutung teilweise eingebüsst hat.
Das ist jetzt
sehr düster.
Es gibt schon noch
Anlass zur Differenzierung und Hoffnung. In den Städten und Agglomerationen ist die SP seit Jahren, wenn
nicht Jahrzehnten, sehr stabil dominant. Sie kümmert sich dort um Kitas, Tagesstrukturen, öffentlichen
Verkehr, Lebensqualität in Quartieren – alles sehr praktische, lebensweltliche Themen, die die
Mittelschicht beschäftigen. Auf der nationalen Ebene dagegen hat sie in ihrer
ganzen Geschichte immer aus einer Minderheitenposition mitregiert. Das führt zu
den zwei grossen Strömungen innerhalb der schweizerischen Partei: auf der einen
Seite die
Pragmatiker, die Deals mit den Bürgerlichen schliessen und die Konkordanz leben
– diese gelten als «Anpasser»; und auf der anderen jene, die ausbrechen wollen
und mit ideologisch abgehobener Systemkritik und oft vulgärmarxistischen
Sprüchen operieren –
die «Systemveränderer».
Was also tun?
Das Wichtigste ist:
Es braucht in der Partei ein starkes Zentrum, um die Flügel zu balancieren. Das
ist auch der Fall, aber in den vergangenen Jahren hat den Journalisten in der
Deutschschweiz ein Ansprechpartner gefehlt, eine präsente Führungsfigur. Das gab skurrilen Selbstläufern und
Selbstdarstellern eine viel grössere Bühne. Eine Auswertung der «Arena» ergab,
dass Cédric Wermuth und Tamara Funiciello am meisten Auftritte für die SP
erhielten. Da ist etwas aus der Balance geraten.
Heisst das,
dass die SP nicht nach links schwenken sollte?
Den
Bewegungsorientierten und den Jungsozialisten soll man ihren Freiraum lassen –
sie aber gleichzeitig stärker für die Gesamtziele einbinden.
«Wir haben derzeit in der Deutschschweiz dieses Führungsvakuum.»
Rudolf Strahm
Wen sehen Sie
als neue Präsidentin oder Präsidenten?
Ich hüte mich, als
Veteran Ratschläge zu erteilen. Es zeugt von wenig Stil, wenn jetzt sogar
Regierungsrätinnen alte Rechnungen begleichen. So viel kann ich sagen: Von den Frauen, die derzeit in der
Presse als Favoritinnen für das Präsidium genannt werden, drängt sich aufgrund
ihrer bisherigen Leistungen keine auf – zurzeit. Vielleicht wagen sich gerade
die Geeignetsten nicht heraus, weil sie zu bescheiden sind. Bei Nadine Masshardt zum Beispiel …
… die bereits abgesagt hat …
… wäre durchaus Potenzial
vorhanden. Sicher
ist: Es braucht eine Deutschschweizer Person, weil wir derzeit in der
Deutschschweiz dieses Führungsvakuum haben. Damit wir uns richtig verstehen:
Das richtet sich nicht als Kritik gegen die Welschen.
Nennen Sie
Namen?
Ich sehe zwei Personen, denen ich –
unabhängig von ihrer politischen Positionierung – Originalität, Kreativität und
Führungspotenzial zubillige. Beide haben zudem eine Strahlkraft über die
SP-Stammwählerschaft hinaus, nämlich die Zürcher Nationalrätin Jacqueline Badran
und halt auch der
Aargauer Nationalrat Cédric Wermuth. Zusammen würden diese beiden innerhalb der
SP auch ein breites politisches und altersmässiges Spektrum abdecken.
Sie plädieren
für ein Co-Präsidium Badran-Wermuth?
Das könnte eine
Möglichkeit sein. Das
Präsidium wird ja sicher aus mehreren Personen bestehen, ob in einem
Co-Präsidium, ist sekundär. Wichtig scheint mir lediglich, dass auch eine
Person dem Präsidium angehört, die die jungen, abgehobenen Wilden einbinden
kann. Das kann eine Person leichter, die selber von links kommt.
Also jemand wie Wermuth. Und als Korrektiv jemanden vom sozialliberalen Jositsch-Flügel?
Nicht zwingend. Der sogenannte Jositsch-Flügel hat es bisher nicht zustande gebracht, eigene Ideen zu präsentieren – etwa zur Migrationsfrage, zu den Sozialversicherungen oder zum Lohnschutz. Für eine Leadfunktion bietet der Flügel derzeit schlicht zu wenig Substanz und Perspektiven. Zudem hat Daniel Jositsch in Partei und Fraktion keine Hausmacht. Er selber hat in den Ständeratswahlen zwar viele bürgerliche Stimmen aufgesogen und feierte so einen persönlichen Erfolg. Seiner Kantonalpartei nützte das aber nichts, sie hat in den Wahlen hart gelitten. Erstellt: 15.11.2019, 21:07 Uhr