Gerhard Schwarz. Ein brillanter Marktgläubiger

Gerhard Schwarz: Ein brillanter Marktgläubiger

Eine persönliche Bilanz von Rudolf Strahm

Essay von Rudolf Strahm , in Weltwoche Nr. 41-15, vom 8. Oktober 2015.

 

Sechzehn Jahre prägte er den Wirtschaftsteil der NZZ, fünf Jahre die publizistische Produktion des Konzerne-finanzierten Thinktanks Avenir Suisse. Jetzt hat Gerhard Schwarz seinen altersbedingten Rücktritt angekündigt. Sein Nachfolger ist schon gewählt.

Formell ist die Produktion von Gerhard Schwarz‘s Denkfabrik Avenir Suisse recht beachtlich: Allein in einem Jahr 120 gedruckte Artikel, weitere 400 Publikationen online, dazu einige Broschüren und zahlreiche Auftritte in Wirtschaftskreisen. Die rund vierzigköpfige Crew des Thinktanks – nicht alle sind vollzeitlich angestellt – ist fleissig und produziert in ihrer Gesamtheit mehr als jedes Hochschulinstitut. Fast alle grossen Konzerne und viele Markenartikler gehören zu den Förderern der Denkfabrik. 5,2 Million Franken standen ihr letztes Jahr an Sponsorgeldern zur Verfügung. Gerhard („Geri“) Schwarz ist in der Denkfabrik, wie zuvor in der NZZ-Redaktion, als umgänglicher „Nichtchef“ sehr geachtet.

Der Output von Avenir ist imposant – aber ist er auch wirksam? Ich muss gestehen, die früheren Think-Tank-Würfe unter Thomas Held haben mich mehr angesprochen; sie waren auch stärker meinungsbildend in der Schweiz. Helds‘ Avenir Suisse befasste sich mit den grossen Strukturfragen des Landes, mit dem Föderalismus etwa oder der Bildung von Metropolitan-Regionen (ein Ausdruck, der sich seither eingebürgert hat), mit ökonomischen Reformen etwa der Landwirtschaft oder der Hochpreisinsel und nach 2008 durchaus mutig auch mit der Too big to fail-Problematik.

Und heute? Man schätzt auch heutige solide Analysen noch, etwa jene der älteren Peer-Mitarbeiter Rudolf Walser und Alois Bischofberger. Aber unter der Direktion von Gerhard Schwarz entsteht viel publizistisches Kleingemüse, viel analytisches Klein-Klein, natürlich immer unter dem Signet des von den Sponsoren verlangten, marktgläubigen Anti-Etatismus. Aber es ist kaum eine Debatte wert. Viele Artikel sind zwar interessant, aber sie reichen intellektuell nicht über das akademische Mittelmass und über die üblichen Medienpublikationen hinaus.

Viel Weltanschauung und wenig Relevanz

Viel Output der Denkfabrik kommt mit scheinexakter, pseudowissenschaftlicher Verbrämung daher und ist dennoch weit von der Wirtschaftswirklichkeit entfernt. Das Kantonsrating mit dem „Avenir Suisse-Freiheitsindex“ wurde von Gerhard Schwarz zwar mit todernster Absicht publiziert, aber selbst bei Freisinnigen hat es bloss ein müdes Lächeln ausgelöst. Die 21 Messindikatoren der „Freiheit“ reichen vom Alkoholkonsumverbot über die Häufigkeit der Radaranlagen bis zur Videoüberwachung. Die Kantone Aargau, Schwyz, Glarus und Appenzell haben offenbar die höchste „zivile und ökonomische Freiheit“; jedoch Genf, Graubünden, Uri, St.Gallen werden durch den „Freiheitsindex“ zu den unfreiesten Ständen. „Freiheit“ ist nach Avenir Suisse, so ein Spötter, wenn man am meisten saufen, rasen, rauchen und die Landschaft verbauen kann. Manche wussten nicht, ob dies als Satire oder als ernst gemeinte Wissenschaft gedacht war. Jedenfalls sind solche Freiheits-Ratings reiner Leerlauf.

Provokation der KMU-Wirtschaft

Unter Gerhard Schwarz ist das Verhältnis zum Schweizerischen Gewerbeverband tief getrübt worden. Mit einer fehlerhaften Studie, verfasst von einem Bankökonomen ohne Bildungserfahrung, wurde die Berufslehre madig gemacht. Mit viel Lobbyaufwand wurde eine neu erfundene Lehre für Akademiker propagiert, ein Modell, das sich bestenfalls für Banken und Versicherungen eignet.

Den Zorn des Gewerbes provozierte Avenir Suisse auch mit einem „Diskussionspapier“ mit „15 krassen Denkfehlern“, so konterte ein Direktionsmitglied des Gewerbeverbands, das die Bedeutung der KMU-Wirtschaft für die Schweiz ignorierte. Gerhard Schwarz publizierte zusammen mit dem Lohnschreiber-Historiker R.James Brading einen 400-seitigen, farbig bebilderten Avenir Suisse-Luxusband unter dem Titel „Wirtschaftswunder Schweiz. Ursprung und Zukunft eines Erfolgsmodells“, mit dem die schweizerische Wirtschaft ausschliesslich als Konzernwirtschaft dargestellt wird. In der Realität umfasst die KMU-Wirtschaft auch heute noch 99.6% aller Unternehmen und sie beschäftigt nahezu zwei Drittel aller Arbeitnehmenden. In dieser Wirtschaftsgeschichte der Schweiz, die Avenir Suisse auch auf französisch, englisch, chinesisch, japanisch herausgibt, hat die KMU-Wirtschaft keinen Platz. Auch der öffentliche Sektor, der immerhin die herausragende Lebensqualität des Wirtschaftsstandorts Schweiz konstituiert, ist in diesem Band kein Thema. Die Motive für diese Einäugigkeit sind schlicht unerklärlich.

Gläubiger Dogmatismus

Vor dem Avenir Suisse-Abenteuer war Gerhard Schwarz sechzehn Jahre lang Wirtschaftschef der Neuen Zürcher Zeitung. Konrad Hummler wollte ihn zum Chefredaktor machen, doch er lief im NZZ-Veraltungsrat auf. Schwarz‘ frühere langfädigen Sonntags-Predigten im NZZ-Wirtschaftsteil hatten wegen ihrer staatsfeindlichen Marktgläubigkeit damals mehr Diskussion und Widerspruch ausgelöst als die heutige Produktion seiner Denkfabrik.

Wir alle haben uns ja in vielen Fragen der Wirtschaftsentwicklung getäuscht. Aber es gibt im Lande wohl keinen Ökonomen, der sich so tüchtig an der Realität vorbei verrannt hat, wie Gerhard Schwarz. Während der neunziger Jahre verteidigte er Jahre lang die monetaristische Hochzinspolitik der damaligen Nationalbankleitung, die im historischen Rückblick als gewaltige Fehlleistung betrachtet wird. Im Jahr 2000 höhnte er mit dem provokativen Buchtitel der „Neidökonomie“ gegen den Sozialstaat. Danach verteidigte er vehement das Mainstream-Dogma des Shareholder Value. Die Kritik an dessen Boni-Wirtschaft galt für ihn als „Neidökonomie“.

Als dann im September 2008 Lehman Brothers zusammenbrach, würdigte er das Ereignis zunächst lehrbuchmässig als natürlichen Bereinigungsvorgang in der Marktwirtschaft. Der Lehman-Auslöser kostete dann der Weltwirtschaft einige tausend Milliarden Dollar an Systemschaden. Nach der expansiven Geldpolitik der Notenbanken zur Verhinderung der Systemkrise warnte er sechs Jahre lang, wiederum vom Lehrbuchmodell geprägt, vor einer Hyperinflation – wahrscheinlich wartet er heute noch darauf.

In der Welt draussen kann wohl passieren, was kommen mag, Gerhard Schwarz wird seine neoliberalen Denkmuster und Erleuchtungen nicht anpassen. Er ist geprägt von der Hayek-Schule, war seit frühen Zeiten in der Mont Pelerin-Society, deren Vizepräsident er ist. Viele Schüler von Friedrich A. von Hayek, der den Sozialstaat als „Weg zur Knechtschaft“ gebrandmarkt hatte, sind zeitlebens geschädigt von der Staatsfeindlichkeit ihres Gründers. Der weise alte Hans-Christoph Binswanger sprach von der „Glaubensgemeinschaft der Ökonomen“. Der Glaube ist vor Anfechtungen immun, die Katechismus in den Köpfen ist durch keine auch noch so markante Realitätsverschiebung zu verändern. Die Hayek-Jünger – in Deutschland haben sie sich jetzt zerstritten, wie dies in Glaubensgemeinschaften üblich ist – werden indes von den jüngeren Schulökonomen heute als Sekte betrachtet und gemieden.

Unkenntnis der dörflichen Kleinbürgerlichkeit

In gewissen Krisensituationen war Gerhard Schwarz aber dennoch überaus anpassungsfähig. Als im Frühjahr 2008 die Riveraine-Konferenz den unglücklich agierenden UBS-Chef Marcel Ospel zum Abschuss freigab – Gerhard Schwarz durfte als einziger Medienmann der Konferenz beiwohnen – forderte er nur einige Tage darauf im NZZ-Wirtschaftsteil den Rücktritt Ospels. Zuvor hatte er jahrelang der Deregulierung des Bankensektors das Wort geredet.

Zur Ehrenrettung oder eher Rechtfertigung muss indes auch der Werdegang des brillanten Schreibers Gerhard Schwarz erklärt werden. Er war Österreicher, studierte in St.Gallen, wo er auch in seinem Antietatismus geprägt worden ist, aber er kannte weder die Praxis und Mentalität der dörflichen Kleinbürgerlichkeit noch die gesellschaftliche Vertrauenskultur der Schweiz. Er hat – wie heute viele Akademiker – nie verstanden, dass die ländliche, kleinbürgerlich-gewerbliche Prägung auch die ökonomische Stärke der Schweizer Wirtschaft ausmachen, etwa mit Werten wie Zuverlässigkeit, Treu und Glauben, Arbeitspräzision, Termintreue und zivilgesellschaftliche Verantwortungsbereitschaft.

Der soziale Zusammenhalt, der in der schweizerischen Patron-Mentalität bis heute weiterlebt, aber in den globalen Konzernen völlig verloren ist, war für ihn nie ein Thema. Sein Credo zur gesellschaftlichen Kohärenz hat er 2011, als er schon Thinktank-Direktor war, in der NZZ so zusammengefasst: „Der Generationenvertrag ist von niemandem je unterzeichnet worden.“ Wer so ahistorisch denkt, versteht die Wirtschaftswirklichkeit der Schweiz nicht.

 

Rudolf Strahm, 72, Ökonom und Chemiker, war eidgenössischer Preisüberwacher und zuvor SP-Nationalrat.

 

Reaktion auf den Artikel: Der Weltwoche-Journalist Markus Schär, der von 2007 bis 2012 für die Kommunikation von Avenir Suisse gearbeitet hatte, antwortete auf obigen (von der Weltwoche bestellten) Beitrag in der Weltwoche vom 15. Oktober 2015 mit einem Artikel unter dem Titel „Der Schweiz-Versteher“. (Weltwoche Nr. 42-15).

 

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