Konkordanz. Rachegefühle bringen uns nicht weite

Kolumne vom Tages-Anzeiger – Dienstag, 3. November 2015

Seit Bundesrat Georges-André Chevallaz hatten wir sechs Finanzminister. Ich habe alle erlebt. Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf hat gewiss von allen den grössten Leistungsausweis. Wie niemand vor ihr hat sie viele, zum Teil längst fällige Reformen auf dem Finanzplatz realisiert, freilich auch mit Anstoss oder unter Druck aus dem Ausland. Und gleichzeitig ist kein Regierungsmitglied in derart unschweizerischer Art bis an die Grenze des Erträglichen angefeindet worden.

Trotz aller Schmähungen durch diese Maulhelden bin ich der Auffassung, dass der SVP mit fast dreissig Prozent Wähleranteil jetzt ein zweiter Bundesratssitz zusteht. Der erfahrene SP-Doyen Helmut Hubacher hat sich in der «Basler Zeitung» in gleicher Weise geäussert, und die meisten SP-Veteranen denken ähnlich. Hubacher hat auch die Forderung vertreten, ein SVP-Bundesrat müsse jetzt die Verantwortung für die Migrationsfrage übernehmen.

Freilich müssen viele über ihren Schatten springen, wenn nun ausgerechnet die SVP nach ihren Rachefeldzügen und ihrer unpatriotischen Zerstörung schweizerischer Grundwerte wie Anstand, Respekt, Toleranz und Kompromissbereitschaft mehr Regierungsverantwortung erhalten soll. Die SVP repräsentiert nun mal fast 30 Prozent der Wählerschaft. Und das Konkordanzsystem ist halt die helvetische Regierungskultur, die alle namhaften Kräfte des Landes in die Verantwortung einbindet. Konkordanz bringt allerdings nicht automatisch Ruhe ins Land. Und aus Unternehmeroptik zeigt sie gewiss nicht die grösste Führungseffizienz. So wird das Parlament aus Konkordanzgründen für nächstes Jahr einen Bundespräsidenten wählen, der für zielstrebige Verhandlungen mit ausländischen Staatschefs alles andere als optimal ist. Aber Benachteiligung und Ausgrenzung erzeugen in der direkten Demokratie halt auch Energieverluste und Blockaden.

Jene SP-Verantwortlichen, die die SVP vor die Tür setzen wollen, denken ahistorisch und bürgerfern. Ahistorisch, weil sie die jahrzehntelange Leidensgeschichte der schweizerischen Sozialdemokratie während der Oppositionsjahrzehnte vergessen. Und bürgerfern, weil sie die Demütigung eines namhaften Teils des Wahlvolks ignorieren.

Konkret: Die SP Schweiz hatte nach Einführung des Proporzes im Jahr 1919 auf einen Schlag 41 Sitze im Nationalrat errungen, in nachfolgenden Wahlen noch mehr. Doch sie wurde vom Bürgertum ganze 24 Jahre lang von der Regierungsbeteiligung ferngehalten, bis 1943 der erste sozialdemokratische Bundesrat gewählt wurde. Und es dauerte weitere 16 Jahre, bis die Bürgerlichen sie 1959, ihrer Stärke gemäss, mit zwei Bundesratssitzen an der Regierungsmacht beteiligten. Man sollte sich erinnern, wie demütigend es empfunden wurde, dass die «Arbeiterklasse», wie sie damals hiess, im Staat nicht anerkannt war. Noch 1943 beklagte das sozialdemokratische «Volksrecht» die fehlende Bundesratsbeteiligung als «Enttäuschung und Entmutigung in allen proletarischen Schichten unseres Volkes».

Häufig begegne ich einfachen Leuten, die aus Tradition oder weil sie ihre Anliegen vertreten fühlen, SVP wählen und es schlicht als ungerecht empfinden, nicht genügend ernst genommen zu werden. Intellektuelle, die sich heute allzu schnell von den polarisierenden Worthelden der SVP in die Blocher-Falle locken lassen, sollten doch mal auch die Demütigungseffekte bei jener SVP-Wählerbasis beachten, die aus anständigen Mitbürgern besteht.

Einen Bundesratskandidaten kann man vor den Wahlen keiner politischen Gesinnungsprüfung unterwerfen. Glaubensbekenntnisse für die Bilateralen oder für die Personenfreizügigkeit oder irgendwas anderes zu verlangen, bringt für die zukünftige Rolle in der Regierung nichts. Analog könnten andere auf den Gedanken kommen, mit einer solchen Unterwerfungsstrategie von einem SP-Kandidaten zu verlangen, dem Bekenntnis im Parteiprogramm für die «Überwindung des Kapitalismus» abzuschwören, von einem Freisinnigen, sich vom programmatischen Marktfundamentalismus seiner Parteidoktrin zu distanzieren, oder von einem CVP-Kandidaten, das Dogma der «Immaculata» von der unbefleckten Empfängnis der Maria aufgeklärt zu widerrufen. Jede Partei hat ihre historisch vorgezeichneten weltanschaulichen Dogmen, die ein Regierungsmitglied einbringen, aber keineswegs in reiner Form umsetzen kann.

Entscheidend für ein Regierungsmitglied ist, dass es die Konkordanz und das Kollegialitätsprinzip respektiert und nicht Regierungsbeschlüsse hintertreibt. Christoph Blocher war aus diesem Grund als Bundesrat charakterlich ungeeignet. Die besten Bundesräte, die dem Land am meisten genützt haben, haben jeweils eine gewisse Distanz zu ihrem Parteiprogramm und gleichzeitig eine starke Scharnier- und Einbindungsfunktion zu ihrer Partei ausgespielt.

Es gibt allerdings eine Spielregel der Konkordanz, auf der man beharren muss: Das Parlament muss frei sein, den Vertreter aus der Regierungspartei unabhängig auszuwählen. Nach der Abwahl von Christoph Blocher hat die SVP einen Racheparagrafen in ihre Parteistatuten eingebaut, der besagt: Jedes SVP-Mitglied, das sich ohne offiziellen Vorschlag durch die SVP-Fraktion in den Bundesrat wählen lässt, muss zwingend aus der Partei ausgeschlossen werden (Artikel 9 Absatz 3).

Das ist eine konkordanzwidrige Erpressung des Parlaments und verstösst laut Staatsrechtlern, zum Beispiel Professor Philippe Mastronardi, gegen die verfassungsmässigen Rechte der Bundesversammlung. Sie verleiht einer Parteinomenklatura einen verfassungswidrigen Machtanspruch. Würde dieser Racheparagraf weiter bestehen, würden auch in Zukunft neue Widmer- Schlumpf-Ausschliessungsfälle geradezu provoziert und perpetuiert werden.

Manchmal steckt ja im pluralistischen Kollektiv mehr Weisheit als in einer einzelnen Parteileitung. Historisch markanteste SP-Bundesräte sind, pro memoria, nicht von der SP-Fraktion, sondern von Bürgerlichen portiert worden, so etwa Hanspeter Tschudi, Willi Ritschard, Otto Stich oder, indirekt nach bürgerlichem Wahlmanöver, auch Ruth Dreifuss.

Die SVP hat ein angebliches «Asylchaos» und eine vermeintliche «Überfremdung» herbeigeredet und damit die Wahlen gewonnen. Aber sie hat, im Gegensatz zu allen anderen, eine verbreitete Bürgersorge um die Zuwanderung aufgegriffen. Solange sie nicht in der Verantwortung steht, kann sie in Fundamentalopposition weiterhin allen anderen die Schuld zuschieben und sie des Verrats am Volkswillen bezichtigen. Sie hat nun die Verantwortung dafür zu übernehmen, die Migrationsprobleme zu lösen. Niemand muss sich dabei um den Rechtsstaat Sorgen machen: Die Konkordanz, auf die sich die SVP ständig beruft, wird auch einem SVP-Bundesrat die rechtsstaatlichen Grenzen setzen.

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