Für eine differenzierte Verhandlungsstrategie mit der EU

Kolumne Rudolf Strahm für TA und Bund vom Dienstag , 19. Februar 2013.

 

Die EU fordert derzeit viel von der Schweiz: Eine Holdingbesteuerung ohne Benachteiligung der EU-Länder, einen Bankdatenaustausch über Steuerflüchtlinge, Personenfreizügigkeit für Kroatien, mehr Hilfsgelder für Osteuropa, Verzicht auf die Ventilklausel, keine Kautionshinterlegung von EU-Baufirmen, freie Stromdurchleitung, die automatische Übernahme von neuem EU-Recht, ein internationales Schiedsgericht über die schweizerische Anwendung des EU-Rechts, – und so weiter. Kaum jemand in Bundesbern hat noch den Überblick, geschweige denn eine strategische Weitsicht.

Wie soll man umgehen mit diesen Herausforderungen und Anpassungsbegehren? Was wir brauchen, ist eine Strategie. Und was wir anstreben müssen, ist ein Deal mit Zugeständnissen von uns an Brüssel und ebenso Zugeständnissen von Brüssel gegenüber dem Nichtmitgliedland Schweiz.

Steuerliche Forderungen der EU sind gerechtfertigt

Gerechtfertigt sind gewiss die EU-Forderungen im Steuerrecht. Wenn EU-Konzerne ihren Sitz in Schweizer Kantone verlegen, weil sie dort ihre Umsätze und Gewinne aus dem EU-Raum nicht versteuern müssen, ist dies eine Schädigung anderer EU-Staaten. Wenn EU-Bürger bei Schweizer Banken ihr Vermögen verstecken können, unterhöhlt diese Steuerfluchthilfe die nationale Souveränität unserer Nachbarstaaten. Wenn jemand in der Schweiz heute immer noch glaubt, man könnte sich diesen gerechtfertigten EU-Forderungen weiterhin entziehen, hat  – um den biertischigen Spruch unseres Bundespräsidenten Ueli Maurer abzuwandeln – „nicht alle Tassen im Schrank“.

Die Personenfreizügigkeit ist anders zu beurteilen. Wir schädigen mit einer Zuwanderungsbegrenzung durch die Ventilklausel nicht andere Staaten. Vielmehr berufen wir uns auf die Verträge. In denen ist die Ventilklausel vorgesehen.

Das Schweizer Volk hat mit den Bilateralen I  (2000) und den Bilateralen II (2005) zu einer rein arbeitsmarktlichen Personenfreizügigkeit Ja gesagt. Die EU will heute aber eine Fortentwicklung zu einer Unionsbürgerschaft: Diese strebt eine freie Niederlassung in ganz Europa und einen freien Zugang zum Sozialversicherungssystem an jedem Wohnort in der EU an. Deshalb fordert die EU jetzt auch ihre Rechtssprechung über das schweizerische Migrationsrecht.

Eine dynamisierte Anpassung der Schweiz an die Fortentwicklung des EU-Binnenmarktzugangsrechts ist sinnvoll und hat auch wenig Gegnerschaft. Mit dieser Dynamisierung ist aber gleichzeitig ein Zusatzabkommen nötig, das einer Ausweitung der Personenfreizügigkeit klare Grenzen setzt.

Begrenzung der Personenfreizügigkeit

Aus bisheriger Erfahrung sind neben internen flankierenden Schutzmassnahmen einige sensible Punkte in einem Zusatzvertrag zur Personenfreizügigkeit zu regeln. Die folgende Aufzählung ist exemplarisch, nicht vollständig.

Erstens muss der Grundsatz „gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit am gleichen Ort“ für EU-Entsendefirmen, die in der Schweiz Arbeiten ausführen, vertraglich abgesichert werden. Denn der EU-Gerichtshof hat neulich in einem Leitentscheid den skandinavischen Ländern verboten, für Tiefstlohnfirmen aus den baltischen Staaten Lohnvorschriften bei der Entsendearbeit festzulegen. Eine solche Rechtssprechung ist für uns inakzeptabel.

Zweitens muss vertraglich gesichert werden, dass ausländische Baufirmen bei uns weiterhin Kautionen und Garantien für die Einhaltung der Löhne leisten müssen, wenn sie in der Schweiz Bauaufträge ausführen. Brüssel will von uns die Aufhebung dieser Sicherungsmassnahmen gegen Lohndumping.

Drittens muss es möglich werden, dass die Schweiz bildungsfernen Zuwanderern aus Portugal, Polen, Ungarn oder Rumänien den obligatorischen Spracherwerb vorschreiben darf, wenn sie in der Schweiz verbleiben wollen. Heute ist uns dies nach EU-Personenfreizügigkeitsrecht als angeblich diskriminierende Massnahme verboten. Dies beweist die bildungs- und kulturpolitische Blindheit des neoliberalen Projekts Personenfreizügigkeit.

Viertens braucht es klare Regeln für die Beendigung des Aufenthaltsrechts, wenn EU-Migrationspersonen bei der Sozialhilfe landen oder langzeitig arbeitslos sind. Wir erleben in aller Stille auf diesem Weg eine Zuwanderung von bildungsfernen Schichten ins schweizerische Sozialsystem. Landesintern braucht es den Datenaustausch zwischen der Sozialhilfe, der Arbeitslosenversicherung und der Ausländerbehörde.

Fünftens müssen Schweizer Firmen und Verwaltungen das Recht oder sogar die Pflicht haben, vorrangig Bewerber oder Arbeitslose aus der Schweiz und erst danach solche aus dem Ausland zu berücksichtigen (Inländervorrang):

Sechstens ist von uns auch eine ständige, unbefristete Ventilklausel oder Schutzklausel zu fordern. Denn ein Hochlohn- und Hochpreisland mit vergleichsweise hohen Sozialhilfestandards wird auf die Dauer den Einwanderungsdruck aus den Ländern Süd- und Osteuropas mit ihren riesigen Arbeitslosenzahlen und Tiefstlöhnen kaum verkraften können.

Können und wollen wir uns auf die Dauer leisten, dass jedes Jahr die ständige Wohnbevölkerung in der Schweiz durch die Zuwanderung in der Grössenordnung der Stadt St.Gallen oder Winterthur wächst?

In dieser längerfristigen strategischen Perspektive wäre es falsch, dieses Frühjahr auf die vertraglich zugesicherte Anwendung der Ventilklausel zu verzichten, – um dann später wieder Forderungen nach einer Begrenzung zu stellen. Die Ventilklausel ist, wenn die Grenzwerte überschritten werden, klares Vertragsrecht! Und der Bundesrat hat in den Abstimmungen über die Personenfreizügigkeit klare Zusagen an die Bevölkerung gemacht. Eine Verletzung dieses Versprechens wäre brächte ihm einen riesigen Vertrauensverlust.

Freilich wird Brüssel aus grundsätzlicher Haltung gegenüber der Schweiz auf seinem Katechismus des freien Personenverkehrs pochen und das Kritikritual gegenüber der Schweiz in Gang setzen. Man muss eine Gesamtstrategie mit gegenseitigen Zugeständnissen anvisieren: Wir haben etwas zu geben – und Brüssel hat etwas zu geben. Ohne gegenseitige Zugeständnisse – mit Betonung auf „gegenseitig“ –  wird die Personenfreizügigkeit bei uns die kommenden Volksabstimmungen nicht überstehen.

Rudolf Strahm

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