Ohne Mindestlohn hat der freie Personenverkehr keine Zukunft

Mindestlohn gegen prekäre Arbeit – Kolumne Rudolf Strahm  in Tages-Anzeiger und Bund vom 29. Januar 2013

 

Wenn Sie morgens an Ihren Arbeitsplatz kommen, ist er über Nacht diskret von Reinigungsfrauen gesäubert worden: Haben Sie sich schon jemals gefragt, was diese ausländischen Frauen verdienen?

Haben wir uns schon mal über die Tiefstlöhne der Migrationsfrauen aus osteuropäischen EU-Ländern aufgehalten, die im Tessin oder in Zürich als Rund-um-die-Uhr-Altenbetreuerinnen in Privathaushalten wirken? Solche Frauen werden massenweise von zwielichtigen Vermittlerfirmen dank der Personenfreizügigkeit bewilligungsfrei aus Osteuropa in die Schweiz gekarrt. War schon jemals ein Thema, was man Verkäuferinnen in gewissen Kleiderläden oder den Hilfskräften in Putzinstituten bezahlt? Oder warum die Tausenden von Erntehelfern und Knechten aus Portugal, Polen und Rumänien von den Landwirten und Treibhausbetreibern oft nicht einmal den vom Bauernverband empfohlenen Mindestlohn von schäbigen 13.25 Franken erhalten?

Soziale Folgen ausgeblendet

Niemand fragt nach den Folgelasten für die Schulen und die Infrastruktur, wenn bildungsferne Einwanderer ihre Kinder und Familie nachziehen, was mit der Personenfreizügigkeit ihr volles Recht ist. Neben den vielen Gutqualifizierten aus Deutschland und Nordeuropa holt man eben auch billige, ungelernte Arbeitskräfte in die strukturschwachen Branchen. Die kulturelle, schulische und berufliche Integration der Kinder überlässt man den Lehrern, den Schulen, der Sozialhilfe, dem Staat. Der Direktor des Arbeitgeberverbands bezeichnete dies in einem Seminar locker als «Marginalproblem».

Letztes Jahr wanderten 18 000 Personen aus Portugal in die Schweiz ein, 26 Prozent mehr als im Vorjahr. Mehr als die Hälfte dieser Zuzüger aus Portugal sind Ungelernte. Aus Spanien betrug der Zuwachs 148, aus Griechenland 128, aus Italien 49 Prozent. Die Krisenlage in Südeuropa zwingt vor allem die Ungelernten zur Auswanderung in Hochlohnländer.

Die Personenfreizügigkeit ist ein neoliberales Konzept aus den 1980er Jahren: Zwischen den Staaten soll ein ungehinderter Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften spielen. Nach dieser Doktrin sollen sich Einkommensdisparitäten zwischen den EU-Ländern durch Migration des «Produktionsfaktors Arbeit» ausgleichen. Arbeitskräfte werden als mobiler Produktionsfaktor betrachtet; aber die kulturellen, sprachlichen, bildungsmässigen Diskrepanzen zwischen den Ländern werden ökonomistisch ausgeblendet. Die EU verbietet uns sogar, von den Migranten aus EU-Ländern obligatorisch einen Spracherwerb zu verlangen, weil dies einer «Diskriminierung» gleichkäme.

Gegen prekäre Arbeit

Man fragt sich oft, weshalb sich so lange niemand korrigierend gegen dieses Mobilitätsdogma zur Wehr gesetzt hat. Die Arbeitgeber waren und sind natürlich stets an der Rekrutierung von billigerem Personal im Ausland interessiert. Die Euroturbos akzeptierten kritiklos die Binnenmarkt-Doktrin von der freien Migration des Faktors Arbeit. Die Linken huldigten lange einem falsch verstandenen Multikulti-Ideal und die Gewerkschaftsfunktionäre fühlten sich an den «proletarischen Internationalismus» gebunden. Erst in jüngster Zeit überlässt man die Bedenken gegenüber der Migration nicht mehr bloss der SVP und den ausländerfeindlichen Zirkeln.

Nun reagieren die Gewerkschaften mit einer Mindestlohn-Volksinitiative gegen das Lohndumping und den Lohnmissbrauch mit der Personenfreizügigkeit. Mit dieser soll in der ganzen Schweiz ein gesetzlicher Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde für jede bezahlte Arbeit gelten. Ausnahmen sind selbstverständlich für Lehrlinge und Lehr-Praktikanten möglich. Die von Gesamtarbeitsverträgen abgesicherten Arbeitsverhältnisse wie Bau und Gewerbe kennen die flankierenden Massnahmen mit Lohnschutz und Kontrollen. Mit der Initiative sollen auch die prekären Branchen wie Hauswirtschaft, Landwirtschaft, Kebab-Gastrowirtschaft und Reinigung einen flächendeckenden Mindestlohn erhalten. Heute gibt es für diese keine verbindlichen Löhne. Die anständigen Betriebe im Gastgewerbe, die grossen Reinigungsfirmen, der Detailhandel akzeptierten längst Gesamtarbeitsverträge. Deren Löhne liegen heute bei 22 Franken und darüber.

Es geht um Kernfragen

Vor zwei Wochen beantragte der Bundesrat phantasielos die schroffe Ablehnung der Mindestlohn-Initiative, – ohne jede Schutzmassnahme für die prekären Arbeitsverhältnisse und ohne Gegenvorschlag. Eine inspirierte Regierung hätte wenigstens das deutsche CDU-Modell vorschlagen können, welches einen gesetzlichen, aber nach Branchen differenzierten Mindestlohn für Deutschland vorsieht. Der Bundesrat kann die Quittung für seine soziale Ignoranz bei den nächsten Volksabstimmungen über die Personenfreizügigkeit erwarten.

Die mit dem ökonomischen Marktmodell lehrbuchmässig gemodelten neoliberalen Ökonomen laufen natürlich Sturm gegen jede staatliche Lohnvorschrift. Die Ökonomen Aymo Brunetti, Beat Kappeler, Kurt Schiltknecht haben sich bereits gegen den gesetzlichen Mindestlohn aufgestellt. Ihr Hauptargument: Tiefe Löhne schaffen mehr Arbeitsplätze. Nach Lehrbuch ist das sogar zutreffend; aber in der Wirtschaftswirklichkeit wird bei uns dieser Mehrbedarf an Dienstboten, Knechten, Landarbeitern, Küchenhelfern und billigen Pflegefrauen eben nicht im Inland sondern durch Rekrutierung bildungsferner Schichten in Nordportugal, Polen und Rumänien gedeckt. Wollen wir ein solches Wachstumsmodell? Ein solches Migrationsmuster ist gewiss nicht nachhaltig.

Mit einem gesetzlichen Mindestlohn lässt sich die Einwanderung differenziert steuern. Er ist mit dem EU-Recht verträglich, denn alle EU-Länder kennen einen gesetzlichen Minimallohn, Deutschland führt ihn noch ein.

Der gesetzliche Mindestlohn ist mehr als ein taktisches Gewerkschaftsanliegen. Es geht um ethisch und wirtschaftspolitisch zentrale Fragen der Migration im Zeichen der Personenfreizügigkeit. Wer bei uns arbeitet, soll vom Lohn leben können. 22 Franken pro Stunde sind angemessen und ethisch gerechtfertigt.

Wenn sich gewisse Arbeiten im Tiefstlohnbereich in der Schweiz nicht mehr lohnen, kann man darauf auch verzichten, etwa auf die ölbeheizten Gemüse-Treibhäuser. Und wenn die marktgläubigen Ökonomen Beat Kappeler und Professor Aymo Brunetti ihren Reinigungsfrauen nicht 22 Franken pro Stunde zahlen können, sollen sie halt selber putzen.

Ohne Mindestlohn hat der freie Personenverkehr keine Zukunft. Def red. TA und Bund für 29.1.2013.

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