Ein umfassendes Freihandelsabkommen könnte die Blockade lösen

Die Zeit der leeren Hände ist vorbei: Der Bundesrat muss endlich seine EU-Strategie mit eigenen inhaltlichen Vorschlägen präsentieren. Dazu gehört eine clevere Ausweichoption.

Kolumne von Rudolf Strahm in Tages-Anzeiger, Bund, TA-Online 30.11.2021

Harmonie sieht anders aus: Bundesrat Ignazio Cassis und EU-Kommissions-Vize Maros Sefcovic vor zwei Wochen in Brüssel.

Harmonie sieht anders aus: Bundesrat Ignazio Cassis und EU-Kommissions-Vize Maros Sefcovic vor zwei Wochen in Brüssel.

Foto: Lukasz Kobus (EU)

Bundesrat Ignazio Cassis war vor zwei Wochen mit leeren Händen aus Brüssel zurückgekehrt. Er war allerdings auch mit leeren Händen dorthin gereist. Sein Besuchszweck war «das gegenseitige Kennenlernen» und ein «Aufgleisen des politischen Dialogs». Niemand konnte sich aus diesen Nettigkeiten etwas Konkretes vorstellen.

Die Antwort kam zwei Tage später. Der forsche slowakische Polterer Maros Sefcovic, der in Brüssel als Mann fürs Grobe eingesetzt ist, gab darauf ultimativ den Tarif durch: «Ich möchte schnelle Ergebnisse.»

Wenn der Bundesrat noch länger zuwartet, verliert er seine Handlungsfreiheit.

Nun ist es an der Zeit, dass der Bundesrat seine EU-Strategie mit eigenen inhaltlichen Vorschlägen präsentiert. Dies ist bei uns die Meinung in fast allen politischen Lagern. Wenn er noch länger zuwartet, verliert er seine Handlungsfreiheit und gerät erneut unter Zugzwang durch immer neue Forderungen und Nadelstiche aus Brüssel und durch Schnellschussaktionen aus dem Parlament oder neue radikale Volksinitiativen.

Der Bundesrat kann mit seiner Roadmap zum weiteren Vorgehen heute nur zweigleisig vorgehen: Das erste Geleise zielt in Richtung weiterer Kooperation mit der EU mit konkreten Vorschlägen und einem neuen Abkommensansatz. Und das zweite, ebenso wichtige Geleise vertieft die Beziehungen mit Drittstaaten vor allem für den Fall, dass Brüssel unnachgiebig seine Blockaden weiterführt.

Das «Geleise Kooperation» braucht einen neuen Ansatz: Warum hat bisher niemand das moderne Ceta-Abkommen zwischen der EU und Kanada ins Spiel gebracht? Früher hiess es, ein Freihandelsabkommen mit der EU sei ein «Rückschritt», weil man einseitig auf das Rahmenabkommen fixiert war. Nach dessen Scheitern wäre aber angezeigt, das moderne bilaterale Comprehensive Economic and Trade Agreement (Ceta) der EU mit Kanada zu prüfen. Es ist umfassender und beinhaltet neben Handelsfragen auch Dienstleistungen, Investitionen und Umweltschutz.

Dieses modernste aller bilateralen Freihandelsabkommen der EU umfasst ein echtes, paritätisches Schiedsgericht – dies ohne eine Jurisdiktion des EuGH! Es klammert die Personenfreizügigkeit aus. Es enthält auch einen Mechanismus zur dynamischen Normenanerkennung, der sicher für die Schweiz zu vertiefen wäre. Ich denke, dass ein Abkommen des Ceta-Typs die bisherigen Bilateralen und die Sektoralabkommen nicht ersetzen, sondern ergänzen würde. Mit einer Ceta-Offensive würde der Bundesrat aus seiner Defensive gelangen und die EU mit einem Gesamtapproach in Rechtfertigungszwang versetzen.

Die drei Dachverbandspräsidenten von Economiesuisse, Gewerbeverband und Arbeitgeberverband haben sich letzte Woche in der gemeinsamen Präsentation ihrer wirtschaftspolitischen Agenda mit hilflosen, schwammigen Formulierungen aus der EU-Affäre gezogen. Ihr Auftritt war bezüglich der EU-Strategie ideenlos und beschämend. Deshalb der Appell an die Wirtschaftspolitiker und Verbandsfunktionäre aller Lager: Studiert und beurteilt mal das Ceta-Abkommen und weitere Alternativen! Denn die Aussenpolitiker können das nicht.

Neben einer Ceta-Offensive sollten die diskutierten sektoriellen Kooperationen mit der EU weiterhin angestrebt werden: etwa technische Stromausgleichsverträge mit Nachbarländern, Andocken an das Horizon-Forschungsabkommen, neuer Kohäsionsbeitrag ohne Automatismus, Vertiefung der Frontex-Beteiligung oder Streitschlichtung in Sektoralabkommen.

Das «Geleise Ausweichen», das der Bundesrat in aller Stille bereits verfolgt, ist aber ebenso unverzichtbar. Nämlich der Aufbau von alternativen Beziehungen mit Drittstaaten für den Fall, dass die Blockaden aus Brüssel weitergehen.

Die clevere Ausweichoperation bei der Börsenäquivalenz ist ein Vorbild. Mit Grossbritannien ist nun eine gegenseitige Anerkennung der Börsen- und Finanzplatzregulierungen in Vorbereitung, die die EU-Finanzplätze schmerzen wird. Mit den drei Forschungs-Topländern USA, Grossbritannien und Singapur werden bilaterale Forschungsabkommen auf jenem hohen Exzellenz-Wissenschaftsniveau angestrebt, das in der EU heute fehlt. Der jüngste Verhandlungsbesuch von Bundespräsident Parmelin in den USA diente auch diesem Ziel.

Brüssel ist derzeit unter dem Einfluss von Jakobinern festgefahren.

Das Uvek seinerseits bereitet als Ersatz für das blockierte Stromabkommen mit der EU nun eigene Notfallspeicherreserven in den hiesigen Stauseen und weitere Massnahmen zur Eigenversorgung vor. Im Fall einer Strommangellage würde uns das weiterhin blockierte EU-Stromabkommen ohnehin nichts nützen, denn im Krisenfall schaut jedes Land für sich. Kurz, das Stichwort solcher Alternativen der zweiten Schiene heisst «Resilienz», also Durchhaltevermögen mit eigenen Handlungsräumen.

Brüssel ist derzeit unter dem Einfluss von Jakobinern so festgefahren, dass es selbst dann Blockaden und Sanktionen gegen andere verhängt, wenn dies die EU als Ganzes schwächt und den EU-Mitgliedsländern schadet. Das Fazit für die Schweiz: Eine verantwortungsbewusste, zukunftsorientierte Politik muss deshalb auf beiden Schienen angestrebt werden. Die Regierung muss nunmehr mit Vorschlägen in die Offensive gehen. Weiteres Zaudern und Zuwarten schadet.

Publiziert 30.11.2021  um 10:15 Uhr