Die vernachlässigte Berufsbildung in der Pflege muss korrigiert werden
Kolumne zur Pflegeinitiative von Rudolf Strahm in TA-Media vom 2. Oktober 2021
Wenn man den Frühumfragen glauben darf, wird Ende Monat die Pflegeinitiative deutlich angenommen. Dieser Druck aus dem Volk ist nötig. Es ist die längst fällige Reaktion auf die jahrelange Vernachlässigung des Pflege-Notstands.
Das hoch regulierte, von vielfachen Interessen und vom Spardruck gesteuerte Gesundheitswesen ist ohne diesen politischen Befreiungsschlag zugunsten der Pflege- und Betreuungsberufe nicht von selbst reformfähig. Das ist meine frühere Preisüberwacher-Erfahrung mit Gesundheitsbürokratie, Spitaltarifen, Tarmedkämpfen und Pharmalobby.
Es ist eine Realität, dass die Ausbildung in den Pflegeberufen dem steigenden Fachkräftebedarf extrem hinterher hinkt. Es ist ebenso die Realität, dass der Überdruck bei den Arbeits- und Lohnbedingungen in Spitälern und Heimen mehr als ein Drittel der Ausgebildeten aus dem Pflegeberuf drängt und sie zu Berufsaussteigerinnen macht.
Derzeit sind rund 6000 vakante Stellen für Fachangestellte Gesundheit FaGe ausgeschrieben, der effektive Bedarf ist doppelt so hoch. Im Versorgungsbericht 2021 des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums Obsan wird vorgerechnet, dass rund 70‘000 neue Pflegefachpersonen bis 2030 benötigt werden, um den Bedarf zu decken und die Abgänge und Berufswechsel im laufenden Jahrzehnt zu kompensieren. Dabei wird der Nachwuchsbedarf auf 27‘000 FaGe mit Berufslehre und 43‘000 diplomierte FagGe mit Höherer Fachschule HF oder Fachhochschule FH beziffert.
Der Engpass ist aber klar bei den Einsteigerinnen in die FaGe-Berufslehre, denn in der Deutschschweiz geht die spätere Weiterbildung vom erfolgten Lehrabschluss aus. Der Berufsverband der Pflegefachleute SBK hat wegen standespolitischer Interessen besonders in der Romandie zu stark auf die Tertiärbildung gesetzt. Auch die niederschwellige Ausbildung von Pflegehelferinnen SRK für die Alters- und Pflegeheime hatte der Verband jahrelang bekämpft. Heute kann man auch auf diese Ausbildungsstufe nicht verzichten.
Was die Versäumnisse der Spital- und Heimleitungen besonders akzentuiert: Es fehlte nie an ausbildungswilligen Schulabgängerinnen. Im Gegenteil, aufgrund der jährlichen Lehrstellenbarometer (heute Nahtstellenbarometer) wissen wir, dass jedes Jahr mehrere tausend junge Frauen (seltener Männer) nach der Schule keine Lehrstelle im Pflegebereich fanden. Ab 2004 lag das Versagen beim Spitalverband H+ und beim Staatssekretariat für Bildung, Forschung, Innovation SBFI (früher BBT). Unser Fachkräftemangel im Pflegebereich und bei Ärzten ist klar hausgemacht!
In der Folge stammen laut Obsan heute 30 % des diplomierten Pflegepersonals schweizweit aus dem Ausland; in der Romandie, wo die Berufslehre vernachlässigt wird, sind es sogar 50%. Bei der Ärzteausbildung zeigen sich übrigens die ähnlichen Versäumnisse. Das ist der manifeste Nachteil des „Ruhekissens Personenfreizügigkeit“: Die Spitaldirektoren konnten ihr Ausbildungsdefizit lange Jahre durch Rekrutierung von Fachkräften in den Nachbarländern ausgleichen. Erst die Pandemie mit dem dortigen Fachkräftemangel hat diese Fehlentwicklung manifest gemacht und gebremst.
Mit der Einführung der Spital-Fallpauschalen (DRG-System) wurde nichts eingespart, sondern bloss der Personalbedarf im System erweitert, indem heute die Pflegefachleute ein Fünftel und die Ärzte ein Drittel mehr Zeit für das DRG-Reporting benötigen. Der Bedarf an hunderten von nutzlosen Kodierern in den Spital- und Kassenbürokratien sowie die Fallverschiebung in den ambulanten Bereich verteuerten das System zusätzlich. Niemand fühlt sich heute für solche Fehlkalkulationen bei den kantonalen Gesundheitsdirektoren verantwortlich.
Diese Erfahrungen zeigen, dass es die Pflegeinitiative als Reformanstoss von aussen braucht. Sie will mehr Mittel für die Pflegeausbildung sowie arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen und eine bessere, verantwortungsgerechte Entlöhnung. Denn im hoch regulierten, kostenkontrollierten Gesundheitsweisen werden heute die Löhne nach Kostendruck und eben nicht nach Personalknappheit, wie etwa bei den Informatikern, festgelegt.
Die Gegner der Pflegeinitiative – es sind nicht allzu viele – behaupten, mit dem Gegenvorschlag des Parlaments würde die Ausbildungs-Offensive rascher in Angriff genommen als mit einer mehrjährigen Umsetzung der Verfassungsinitiative. Das lässt sich aber mit folgendem Vorschlag korrigieren:
Die bereits vorbereitete Ausbildungsoffensive lässt sich nach der Annahme der Pflegeinitiative als Gesetzesteil A in weniger als einem Jahr rasch angepasst umsetzen. Sie ist ja unbestritten. Und die komplizierteren Arbeits- und Lohnfragen, die regulatorisches Neuland betreffen, sollten mit den Verbänden ausgehandelt und danach getrennt als Gesetzesteil B in Kraft gesetzt werden. Solches Vorgehen gab es auch schon.
Damit allerdings den vielen schönen Worten zugunsten der Pflegenden auch reelle Taten folgen, braucht es ein Steuerungsorgan zur Bewältigung des Pflege-Notstands, das die Durchsetzung der Massnahmen verantwortet. Gewiss ist, der Spitalverband H+ und das Staatssekretariat SBFI allein schaffen das nicht.
(Rudolf Strahm in Tages-Anzeiger, Der Bund, TA-Online vom 2.11.2021)