Die Asylpraxis ist ein Basar

Kolumne in Tages-Anzeiger und Bund vom 24. Juli 2018.

Jedes EU-Land setzt heute seine eigene Version des Flüchtlingsrechts durch. Und jedes Land verletzt irgendwo die Menschenrechte und die völkerrechtlichen Verfahrensregeln für Flüchtlinge.

Faktisch wird die Genfer Flüchtlingskonvention weltweit ausgehebelt. Auch das Dublin-Verfahren wird innerhalb der EU nicht mehr regelkonform angewandt. Die 125 hängigen migrationspolitischen Vertragsverletzungsverfahren der Brüsseler EU-Kommission gegen die EU-Mitgliedsländer haben bloss noch symbolische Bedeutung.

Nicht etwa nur die rechtspopulistischen Regierungen in Ost- und Südeuropa übergehen das humanitäre Völkerrecht, sondern auch die ehemaligen Musterschüler und Mahner wie Frankreich, Schweden, ja ganz Skandinavien. Die schweizerische Asylpolitik erscheint, allen landesinternen Kritikern zum Trotz, im internationalen Vergleich geradezu als mustergültig.

Überforderung ist Realität

Aber die Überforderung der Länder und Gesellschaften bei der Bewältigung der Massenmigration ist eine globale Realität. Es werden Milliarden an öffentlichen Mitteln eingesetzt, aber das bisherige Asylrecht ist aus humanitärer Sicht immer unwirksamer. Nur ein Bruchteil dieser Summen wird zur Migrationsprävention vor Ort eingesetzt, etwa für Berufsbildung, Arbeitsplatzbeschaffung und Rechtssysteme vor Ort.

Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 wurde nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust formuliert. Die Definition des Flüchtlings mit völkerrechtlichem Schutzstatus orientiert sich an Personen, die individuell «an Leib und Leben verfolgt» sind. Das Genfer Zusatzprotokoll von 1967 verstärkte das Asylverfahren und präzisierte die Rechte der Flüchtlinge.

Es ist eine Tatsache, auch wenn viele sie nicht wahrhaben wollen, dass die überwiegende Zahl der Asylmigranten nicht persönlich an Leib und Leben verfolgt sind, wie es damals etwa die Juden, Sinti, Roma und Sozialisten in Nazi-Deutschland waren. Die heutige Völkerwanderung besteht aus Armutsflüchtlingen, die der Perspektivlosigkeit entrinnen wollen und von ihren Familien auf die Reise geschickt werden. Nutzniesser sind grossmehrheitlich die Stärkeren, Bessergestellten. Kriegsflüchtlinge aus Syrien und aus Regionen Afghanistans sind eine Minderheit. Gerade die Schwächsten und Verletzlichsten sind nicht in der Lage, nach Europa zu migrieren.

Stärkere bevorzugt

Eine Gruppe internationaler Rechtsexperten, die seinerzeit vom australischen Parlament eingesetzt wurde, formulierte die Mängel der gültigen, von der Realität überholten Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. Denn sie ist veraltet.

Das Genfer Abkommen ignoriert die sozialen, gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen der Massenmigration in den Aufnahmeländern. Die stärkeren, mobilen Migranten werden gegenüber den Schwächsten im Asylprozess und in Flüchtlingszentren bevorzugt.

Die Asylentscheide basieren auf den persönlichen Angaben des Asyl­suchenden und lassen den Behörden keine rechtssichere Überprüfung zu. Seit zwei Jahrzehnten gibt es den Ruf nach Anpassung des humanitären Völkerrechts für Flüchtlinge an die heutigen Realitäten. Laut Experten wehrt sich am meisten die UNHCR-Bürokratie gegen eine Revision der Flüchtlingskonventionen. Sie befürchtet einen Verlust an Einfluss und Geld.

Besondere Verantwortung der Schweiz

Toni Stadler weiss, worum es hier geht. Der Experte arbeitete während eines Vierteljahrhunderts für IKRK, UNDP, UNHCR, OECD und Deza und wirkte in seinem Leben als Betreuer in Flüchtlingslagern in Thailand, Kambodscha, dem Irak, Zaire, Angola und Ruanda. Stadler forderte in der NZZ eine Reform der Flüchtlingskonvention in folgendem Sinn: Erstens sollten Kriegsvertriebene und Verfolgte zuerst in sicheren Zonen und Auffanglagern in benachbarten Länder untergebracht werden, wie heute zum Beispiel in Jordanien und der Türkei. Dabei wäre die Staaten­gemeinschaft verpflichtet, die Kosten dafür zu tragen. Damit könnten die Geflüchteten auch den Kontakt zur Heimat besser bewahren. Zweitens sollen die Geflüchteten weiterhin vollen Rechtsschutz in Anspruch nehmen können. Eine Rückschiebung wäre verboten. Sie hätten das Recht, Asylanträge bei einer Anlaufstelle oder Botschaft von Drittländern zu stellen. Damit würde das milliardenschwere Schlepper-Business zusammenbrechen. Wer allerdings ohne Asylstatus in ein Drittland einreist, würde nicht nach Flüchtlingsrecht, sondern streng nach dem örtlichen Ausländerrecht beurteilt.

Die Schweiz hat bei der Diskussion über eine Reform des humanitären Völkerrechts im Asylbereich eine besondere Verantwortung. Denn sie ist Depositarstaat der Genfer Flüchtlingskonvention. Das heisst, sie verwahrt als Depositar die Original­urkunden der Länder und führt die Briefträgerdienste für die Konvention. Warum ergreift der Bundesrat nicht die Initiative für einen solchen Reformprozess?

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