Flam: Den Zeitdruck wegnehmen

Artikel im Tages-Anzeiger und Bund vom 21. 8. 2018

Der Ausstieg der Gewerkschaften aus den Gesprächen zu den flankierenden Lohnschutzmassnahmen (Flam) war ein kleines helvetisches Gewitter, das bei vielen die Nerven strapazierte. Als «widersprüchlich und verantwortungslos» tadelte Tagesanzeiger.ch/Newsnet die Aussteiger. Vor einer «unheiligen Allianz der Abschotter» warnte die «Neue Zürcher Zeitung». Der neokonservative NZZ-Chefredaktor Eric Gujer stempelte die SP als verwandelte «SVP light» ab.

Die Gewerkschaften sind mit ihrem Platzenlassen der Flam-Gespräche zu Spielverderbern geworden. Wer das Gespräch verweigert, verliert Goodwill. Wie soll der unbeteiligte Bürger diese verkorkste Flam-Debatte einschätzen? Dazu dienen einige faktische Hintergründe zur Klärung.

Faktum 1 – Die Gewerkschaften

Die Arbeitnehmerbasis der Gewerkschaften ist mehrheitlich gegen die Personenfreizügigkeit. 60 Prozent der gelernten Berufsarbeiter und 70 Prozent der Ungelernten stimmten 2014 laut Vox-Detailauswertung für die Masseneinwanderungsinitiative der SVP. Dies trotz massiver Nein-Kampagne durch die Gewerkschaftsleitungen. Bei den Arbeitslosen waren es sogar über 80 Prozent Ja. Die stärkste Annahme war in allen Berufsgruppen bei den 50- bis 60-Jährigen zu beobachten, die am meisten die Verdrängungseffekte durch Ausländer spüren.

Da kommen nun all die Besserwisser, die den Gewerkschaften in ihrer schwierigen Lage wohlfeile Ratschläge erteilen. «Treibt nicht noch mehr Büezer in die Arme der SVP!», brachte es der «SonntagsBlick» auf den Punkt. Wenn die Gewerkschaftsführungen diesmal die realen Ängste ihrer Arbeitnehmer ernst nehmen, werden sie als Abschotter, Wendehälse und Klassenkämpfer geprügelt.

Faktum 2 – Das Gewerbe

Ungeachtet der Eiertänze der Führung im Schweizerischen Gewerbeverband verteidigt die gewerbliche Basis dezidiert die Flam. Gewerbler sind häufig die treibende Kraft für Kontrollen und Kautionen. Die Gewerbeverbände in den grenznahen Kantonen hatten 2014 die SVP-Masseneinwanderungsinitiative unterstützt. Ein geharnischter Brief des Westschweizer Unternehmerverbands und des Centre Patronal an Bundesrat Schneider-Ammann bestätigte jüngst diese Unterstützung der Flam.

Faktum 3 – Die EU

Brüssel will den Lohnschutz der Schweiz vermindern und der EU-Gerichtsbarkeit unterstellen. Dies ist klar der Hauptgrund für ein institutionelles Rahmenabkommen. Offener Arbeitsmarkt und Lohnkonkurrenz gehören zum neoliberalen Konzept der Personenfreizügigkeit. Zahlreiche arbeitnehmer-­feindliche Entscheide des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) bestärkten diese Doktrin.  Es geht nicht bloss um die 8-Tage­Regel. Dieses Problem wäre meines Erachtens technisch lösbar. Nein, vielmehr will die EU die Unterstellung der schweizerischen Flam unter die EU-Gerichtsbarkeit. Ob da noch ein Schiedsgericht dazwischengeschaltet wird, das dann die Härte der EU-Sanktionen bei Regelverstössen schiedsrichterlich beurteilen darf, ist Diplomatenkosmetik.

Faktum 4 – Der Bundesrat

Die beiden freisinnigen Bundesräte Johann Schneider-Ammann und Ignazio Cassis beantragten dem Bundesrat vor der Sommerpause eine EU-kompatible Anpassung der Flam. Sie wurden im Bundesrat überstimmt. Trotzdem wurden die sommerlichen Sozialpartner-Gespräche an Schneider-Ammann (warum an ihn allein?) übertragen.

Das ominöse Papier, das die Gespräche Anfang August zum Platzen brachte, wurde in Abwesenheit des Departementschefs von der zweiten Garnitur mit den Generalsekretären Stefan Brupbacher (WBF) und Markus Seiler (EDA) sowie mit Chefunterhändler Roberto Balzaretti und einigen Seco-Leuten verfasst und verschickt. Heute wird das Papier vom Departement bloss als unverbindliches «working paper» bezeichnet.

Die Autoren haben mit diesem Papier willentlich und wissentlich die Bundesratsvorgaben missachtet. Die revidierten Flam sollten «einer allfälligen Überprüfung vor einem Schiedsgericht und einer allfälligen Einschätzung des EuGH Bestand haben», stand darin. Genau diese Überprüfung durch den EuGH wollte der Bundesrat mit seiner roten Linie nicht. Das führte zum Eklat.

Ich habe im Volkswirtschaftsdepartement immer wieder erlebt, wie Chefbeamte mit ihren Papieren dem Departementschef oder dem Bundesrat bestimmte Formulierungen und Aussagen unterjubeln wollen, auf die sie sich nach dem Entscheid berufen. Hat Bundesrat Schneider-Ammann das Papier überhaupt vorher gelesen? Haben Brupbacher, Balzaretti und Co. ihm mit ihrem Papier einfach ihre Strategie untergejubelt? Beim vorangehenden Streit mit Bauernpräsident Markus Ritter lief es ähnlich.

Die vom EDA gesetzte Frist, bis im September eine Lösung für die Anpassung der Flam zu finden, war unrealistisch und schlicht inkompetent. Ich war 1998/2000 bei den ersten Flam zu den Bilateralen I involviert. Es brauchte damals mehr als ein Jahr, bis die komplexen gesetzgeberischen und verfahrensrechtlichen Probleme mit allen Akteuren solide ausgearbeitet und justiziabel abgestimmt waren. Man sollte aus solchen Erfahrungen lernen.

Man muss jetzt den Zeitdruck wegnehmen. Nächstes Jahr stehen Europa-Wahlen, eidgenössische Wahlen, der Brexit-Countdown und ein historischer Personen- und Machtwechsel in Brüssel bevor. Im Jahr 2020 sieht die Welt in der Brüsseler Glasglocke anders aus.

Die Parteipräsidenten der FDP, der CVP und der SP fordern unisono den Aufschub und eine vorübergehende Stillhaltevereinbarung mit Brüssel. Es braucht jetzt etwas Nerven und Gelassenheit, auch wenn dies ehrgeizige Aussenpolitiker und Diplomaten derzeit hintertreiben. Die Schweiz wird auch die angedrohten nächsten Nadelstiche aus Brüssel überleben.

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