Kolumne in Tages-Anzeiger und Bund vom 26. Juni 2018
Die Schweiz hat jüngst von keinem Regierungsmitglied eine so leichtsinnige Plauderei erlebt wie jene von Bundesrat Ignazio Cassis zur «roten Linie». Noch im März verkündete er mit markigen Sprüchen im Namen des Bundesrats, dass die Schweiz die bisherigen flankierenden Lohnschutzmassnahmen als rote Linie gegenüber Brüssel unverrückbar verteidigen werde. Und nun redete der Tessiner Solotänzer diese Verhandlungslinien selber weich, ohne vorher das Regierungskollegium konsultiert zu haben.
Mit seiner Grenzverschiebung verunsicherte er erneut die personenfreizügigkeitskritischen Arbeitnehmer, verärgerte die Gewerbler, verhärtete die Gewerkschaften und nervte seine Bundesratskollegen. Als Neuling in der Aussenpolitik hat er nicht gespürt, dass er gegenüber der knallharten Brüsseler Diplomatie die Position des Bundesrats vorauseilend preisgibt.
Allerdings sind Cassis’ flotte Sprüche nur die direkt hörbaren Elemente einer Aufweichstrategie des EDA. Botschafter Roberto Balzaretti hatte schon zuvor hörige Journalisten und Parlamentarier zwecks Aufweichung des bundesrätlichen Verhandlungsmandats einzuseifen versucht. Diplomaten wollen stets den ehrgeizigen, kurzfristigen Erfolg. Um die spätere demokratische Legitimation in der Volksabstimmung kümmern sie sich nicht. Das war schon immer so und wiederholt sich jetzt.
Warum ist die Aufrechterhaltung der flankierenden Massnahmen (Flam) zum Arbeitnehmerschutz überhaupt zur roten Linie gemacht worden? Vielen fehlt die Langzeiterinnerung.
1992 lehnte das Schweizervolk den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) mit 50,3 Prozent Nein-Stimmen ab. Doch bloss acht Jahre später befürwortete das Volk mit 67 Prozent Ja-Stimmen-Anteil die bilateralen Abkommen I mit der EU und 2004 nochmals die Bilateralen II mit 55 Prozent Ja-Stimmen.
Was ist in den acht Jahren zwischen 1992 und 2000 geschehen? Massgebend war nicht etwa ein Meinungsumschwung zugunsten der EU, sondern die innenpolitische Zusicherung von flankierenden Massnahmen (Flam) zum Schutz der Löhne und Arbeitsbedingungen.
Diese Flam sind heute gängige Praxis. 2004 wurden sie mit einer Meldefrist ausländischer Firmen für Arbeiten in der Schweiz (Entsendearbeit) verstärkt. Mit den Flam werden in Baustellen, Werkhöfen, Spitälern, Heimen und Handelsfirmen Lohnkontrollen durch Inspektoren durchgeführt. Letztes Jahr sind 170’000 ausländische Arbeitnehmer in total 44’000 Betrieben kontrolliert worden. Es gilt das Prinzip: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort.
Diese Kontrollen dienen nicht nur dem Schutz hiesiger Arbeitnehmer vor Lohndumping, sondern auch dem Gewerbe, das durch ausländische Entsendefirmen mit osteuropäischen Tieflohnarbeitern in Bedrängnis gerät. Kein Land kennt so hohe Lohndifferenzen zum Ausland wie die Schweiz, und kein Land hat pro Kopf so viele Entsendearbeiter. Die Arbeitsmarktüberwachung bringt «Ordnung im Stall», wie sich Bundesrat Schneider-Ammann ausdrückte.
Die ungeliebte Personenfreizügigkeit ist nur dank einer starken sozialen Abstützung und der Massnahmen gegen Lohndumping mehrheitsfähig. Darum hat der Bundesrat in seinen Verhandlungsmandaten für die Unterhändler die Flam zur roten Linie erklärt.
Nochmals ein Rückblick auf die Zeit zwischen 1992 und 2000. Im Vorfeld der Verhandlungen zu den Bilateralen bekannten sich Bürgerliche (ohne die SVP), die Arbeitgeber und die Linke für die Lohnkontrollen. Freilich gab es in der SP-Fraktion der Bundesversammlung divergierende Präferenzen. Verbal bekannten sich zwar alle zum Lohnschutz – wie heute. Aber die EU-Turbos wollten unter allen Umständen den bilateralen Verträgen die Priorität geben. Auch heute gibt es solche. Erst nach intensiven Diskussionen entschied die SP-Fraktion 1998 mit Zweidrittelmehrheit, dass sie die Bilateralen nur unter der Bedingung der Flam unterstützen würde. Dieser Entscheid für einen unabdingbaren Arbeitnehmerschutz war matchentscheidend für die Durchsetzung der heutigen Schutzmassnahmen.
Jetzt ist das Powerplay wieder voll im Gang. Von Brüssel und von unsern Diplomaten wird künstlicher Druck aufgebaut. Man spricht von einem «günstigen Zeitfenster», das nur in der zweiten Hälfte 2018 während der EU-Präsidentschaft Österreichs offen sei. Letzte Woche allerdings wusste die österreichische diplomatische Mission in Brüssel nichts von diesem Plan.
Vom Swiss Desk im Kabinett von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wird Druck gemacht, bis September 2018 müssten die wichtigsten Grundsätze des institutionellen Rahmenabkommens vereinbart sein. Juncker hat diese Verhandlungen mit der Schweiz zu seiner Chefsache gemacht. Es gibt eine versteckte Agenda, wie ich letzte Woche persönlich in Brüssel vielstimmig erfahren konnte: Die EU will im Hinblick auf die heissen Verhandlungen mit Grossbritannien über den Brexit demonstrativ ein Exempel an der Schweiz statuieren und ihre Doktrin der Personenfreizügigkeit als Benchmark sichtbar durchsetzen.
Dieses Korsett Brüssels ist ein EU-internes Problem. Aber die EU-Zentrale wird keinen Aufwand scheuen, weitere Kraftmeiereien und Sanktionsdrohungen gegen die Schweiz auch mithilfe schweizerischer Brüssel-Korrespondenten medienwirksam aufzufahren.
Ich denke, die Schweiz könnte und sollte gerechtfertigte EU-Forderungen erfüllen, etwa mit den 1,3 Milliarden Franken Kohäsionsgeldern für die Entwicklung Osteuropas. Oder mit der zukünftigen Ausrichtung von Arbeitslosengeldern an jene ausländischen Grenzgänger, die ihre Stelle in der Schweiz verlieren und zuvor mindestens drei Jahre hier gearbeitet haben.
Dagegen wird sich eine Aufweichung der Flam als Killer eines Abkommens erweisen. Auch die explizite Festschreibung des beschlossenen schweizerischen Inländervorrangs für Stellensuchende ist unerlässlich, nachdem dieser immer wieder infrage gestellt wird. Eine allfällige Modifizierung und Anpassung der Flam an die erneuerte Entsenderichtlinie der EU muss hierzulande mit den Sozialpartnern ausgehandelt und juristisch sorgfältig ausformuliert werden. Dazu ist das zuständige Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) in so kurzer Zeit bis im Herbst schlicht nicht in der Lage. Schon bisher hat es wegen mangelnder Leadership weder eine effiziente Fachkräfteinitiative noch eine tragfähige Strategie für ältere Arbeitnehmer über 55 zustande gebracht.
Nach meiner Einschätzung gibt es derzeit nur diese Alternative: Entweder gelingt eine Einigung ohne Zeitdruck mit den Arbeitnehmerverbänden über das vollumfängliche Schutzniveau bei Löhnen und Arbeitsverhältnissen. Oder das Projekt institutioneller Rahmenvertrag wird vorerst scheitern.