Das gefährliche Vollgeld-Experiment

Kolumne im Tagesanzeiger/Bund vom  14.5.2018

Ein originelles Denkmodell einer am Schreibtisch konstruierten Geldmarktordnung ist die Vollgeldinitiative, über die wir demnächst abstimmen. Sie will eine fundamentale Umgestaltung des Kreditsystems in der Schweiz. Nach ihr soll einzig die Schweizerische Nationalbank (SNB) Geld in Form von Münzen, Noten und Buchgeld schaffen dürfen. Die Geschäftsbanken dürften nur noch als Kreditdurchlaufstellen dienen. Sie dürften nur ausleihen, was sie an Einlagen direkt von den Kunden erhalten und was ihnen die SNB direkt zuteilt. Dagegen will die Initiative alle Kredite von Bank zu Bank (sogenannte Sicht­einlagen) verbieten. Das von der Nationalbank geschöpfte Geld bezeichnen die Initianten als «Vollgeld».

Ein solches Modell wäre an sich reizvoll. Bereits in der Finanzkrise der 1930er-Jahre entwarfen amerikanische Ökonomen ein 100-Prozent-Reservesystem der US-Notenbank zur Verhinderung von Spekulationsblasen. Der deutsche Politologe Joseph Huber war von diesem Gedankenkonstrukt so fasziniert, dass er nun Buch um Buch schreibt, um die Welt mit Vollgeld zu retten.

Nur tauglich für Insel-Wirtschaft

Ein solches Konstrukt wäre durchaus machbar, wenn man die Welt neu erfinden könnte und viele Länder mitmachen würden. Aber in einer offenen Volkswirtschaft mit international verflochtenen Banken und globalen Finanzmärkten funktioniert es nicht. Die Vollgeldstrategie ist ein Traum­modell für die Robinson-Insel mit einem ab­geschotteten Geld- und Kreditsystem.

Ein Teil der gesamthaft gehaltenen oder im Umlauf befindlichen Schweizer Franken werden heute schon von internationalen Banken und Versicherungen kontrolliert, auch von schweizerischen Bankfilialen im Ausland. Im Falle eines Vollgeldregimes wäre es für sie ein Leichtes, über den Umweg einer ausländischen Bankfiliale Kredite zu vermitteln, im Ausland Franken-Sichtguthaben von Bank zu Bank zu verschieben oder über internationale Kreditkartensysteme und verdeckte Kryptogelder jede Art von Umgehungsgeschäften abzuwickeln. Sofort würde das Umgehungsbusiness zu einem Geschäftsmodell. Die Nationalbank könnte dies nur mit harten Zwangsmassnahmen wie zum Beispiel lücken­losen Kapitalverkehrskontrollen verhindern.

Den Initianten habe ich bereits vor der Lancierung und auch neulich wieder die Frage nach der internationalen Umgehung gestellt. Sie können aus ihrem Denkkonstrukt keine plausible Antwort ableiten. Selbst der Vollgeldguru Joseph Huber musste diese Umgehungsmöglichkeiten vorsichtig einräumen: «Banken könnten die Vollgeldordnung vielleicht ein Stück weit unterlaufen, indem sie sich von verbundenen Auslandunternehmen Kredit in Auslandwährung ausstellen lassen.»

«Die Vollgeldstrategie ist kaum praxistauglich.»

Als Grundübel betrachten die Initianten die sogenannte girale Geldschöpfung der Banken. Darunter versteht man jene Praxis, wenn die Bank A der Bank B Kredite (Sichteinlagen) gewährt und dann diese an die Bank C weiterreicht usw. Die Vollgeldinitianten nennen dies irreführend «private Geldherstellung der Geschäftsbanken aus dem Nichts». Die Realität sieht so aus: Keine einzelne Bank kann «Geld schaffen». Und keine Einzelbank kann mehr ausleihen, als sie selber Aktiven hat. Richtig ist aber: Die Gesamtheit der Banken kann unter­einander, als Bankensystem betrachtet, die Geldmenge durch girale Kreditschöpfung aufblähen und das Finanzsystem instabil machen.

Der Denkfehler der Vollgeldinsulaner liegt allerdings darin, dass Spekulationsblasen nicht allein durch girale Geldschöpfung entstehen können, sondern indem die Banken und Schuldner zu wenig Eigenmittel als Finanzpuffer halten müssen, um ihre Risiken selber abzufedern. Heute verfügen die UBS und die CS über nur gerade 3 bis 4 Prozent Eigenmittelanteil an ihren (ungewichteten) Ausleihungen. Hätten die Initianten eine Eigenmitteldeckung von 10 oder gar 20 Prozent gefordert, könnten praktisch alle bankunabhängigen Ökonomen von links bis rechts hinter dieser Forderung stehen.

Mit ihrer totalen Umkrempelung des Kreditsystems haben sich die Initianten verrannt. Wir erleben nicht selten, dass sich überengagierte Urheber einer Volksinitiative ins Extrem verbeissen und sich dadurch selber isolieren.

Kaum kontrollierbare Frankenaufwertung

In der Nationalökonomie gibt es in keinem Bereich so viele sektiererische Verirrungen wie in der Geld- und Währungspolitik. Ein solches Extrem war die marktfundamentalistische Deregulierungswelle vor der Finanzkrise 2008. Oder die Volksinitiative «Rettet unser Schweizer Gold» (Goldinitiative) von 2014. Oder in den 1990er-Jahren die historische Fehlleistung der damals monetaristisch geprägten SNB-Leitung, die mit ihrem Dogmatismus der Geldmengensteuerung die Schweizer Wirtschaft während Jahren regelrecht abwürgte. Heute wird ihr dogmatischer Monetarismus von damals allgemein als sektiererische Verirrung beurteilt.

Die Vollgeldstrategie hat eine richtige Absicht, nämlich die Stabilisierung des Finanzsystems. Aber sie wäre kaum praxistauglich, wenn eine grosse internationale Bankenkrise wie eine Pandemie auch auf die Schweiz übergriffe und den Frankenkurs durch Fluchtbewegungen in die Höhe triebe. Selbst Vollgeldpropagandist Joseph Huber räumt ein, dass bei einer Vollgeldordnung «das Land als ‹sicherer Hafen› gelten dürfte und daher einen unerwünscht hohen Währungszufluss erleben könnte». Dieses Experiment einer kaum kontrollierbaren Frankenaufwertung möchte ich unserer Exportwirtschaft und ihren Arbeitnehmern nicht antun!

Zu viel Macht für die SNB

Ein Vollgeldsystem würde der Nationalbank zusätzliche Macht über die Wirtschaftspolitik übertragen. Sie könnte mit der Geldmenge praktisch das Wachstum steuern. Dem dreiköpfigen Direktorium mit einem übervorsichtigen, modellgläubigen Wirtschaftsprofessor und zwei Karrierebeamten darf man diese Machtfülle ohne demokratische Legitimation nicht übertragen.

Viele Bürger möchten die internationalen Grossbanken irgendwie abstrafen, nachdem diese uns eine globale Finanzkrise mit zehnjähriger Schadenwirkung eingebrockt hatten. Der Ruf nach Einschränkung der Banken geniesst einige Sympathie. Damit spielen auch die Initianten. «Gäbe es eine Möglichkeit, die Banken und die Geldmengenvermehrung in die Schranken zu weisen?», fragte mich ein besorgter Bürger. Viele stellen sich solche Fragen zu Recht. Darauf ist aber die Vollgeldinitiative eine ungeeignete Antwort. Sie macht ein falsches Versprechen. Denn sie löst – in einem Land isoliert eingeführt – keine der international verursachten Probleme. Sie würde zum gefährlichsten Experiment mit unsicherem Ausgang. (Tages-Anzeiger)

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