Wir stehen mitten in einer Zeitenwende – Rückblick auf das Jahr 2020

Die Corona-Krise hat das Vertrauen in den Staat gestärkt. Wirtschaftsliberale sind in der Defensive, man besinnt sich wieder auf das Gemeinwohl. Nun folgt der Kampf ums Impfen und um die Schuldentilgung.

                          Von Rudolf Strahm

29.12. 2020 in TA-Online, Tages-Anzeiger, Bund, BaZ

Vieles ist anders geworden im Jahr der Corona-Krise. Das Virus hat unser Zusammenleben erschüttert, die Familien, die Wirtschaft, die demokratischen Prozesse und natürlich die öffentlichen und privaten Kassen.

Wir haben in diesem Jahr ein Bundesparlament erlebt, das sich gleich nach dem ersten Auftreten des Virus durch eigenen Beschluss ganz schnell in den selbst gewählten Lockdown abmeldete. Als Folge zog die Landesregierung mit einer selbstproklamierten «ausserordentlichen Lage» die Vollmachten an sich.

In dieser Zeit errang sie bei der Bevölkerung einen so hohen Grad an Vertrauen wie nie zuvor. Danach haben wir vor und in der zweiten Welle der Pandemie den Föderalismus mit widersprüchlichen kantonalen Strategien aufblühen sehen, begleitet von einer Kakofonie profilierungsbedürftiger Experten.

«Es Gschtürm»

Doch dieser war die Folge des Massenwirrwarrs – laut Bundespräsidentin: des “Gschtürms” – ein Vertrauensverlust in der Bevölkerung. Es kam zu Ermüdungserscheinungen, und die Disziplin beim Befolgen der Schutzmassen zerfiel.

Wir mussten auch irritiert erfahren, wie zuvor hoch bezahlte Topbeamte in Bundesbern jahrelang durch Fehleinschätzungen und Pflichtverletzung bei der Landesvorsorge mit medizinischen Hilfsmitteln, Masken, Testmaterialien, Spitaleinrichtungen und Versorgungsplänen versagt hatten. Keiner wurde je dafür zur Rechenschaft gezogen.

Wir haben in diesem Jahr auch realisiert, wie nötig eine internationale Kooperation in der Pandemiebewältigung wäre. Und gleichzeitig mussten wir erfahren, wie jeder Staat für sich operierte und die konkrete Gesundheitsversorgung doch immer nur nationalstaatlich geleistet werden kann. Die Rückbesinnung auf den Nationalstaat hat nachhaltig gewonnen.

Wir haben auch den plötzlichen politischen Stimmungsumschwung zugunsten staatlicher Hilfsprogramme für die Wirtschaft erlebt. Dabei war markant, dass die Spitzenverbände Economiesuisse und Schweizerischer Gewerbeverband, die im März noch aus «ordnungspolitischen» (sprich: ideologischen) Gründen die Epidemie ohne Staatshilfe aussitzen wollten, von den Branchenorganisationen der Gastro-, Hotellerie-, Tourismus-, Verkehrs- und KMU-Szene und von den Gewerkschaften überrollt und an die Wand gespielt worden sind. Seither ringen die zwei Dachverbände um ihre angeschlagene Glaubwürdigkeit.

Wir haben später irritiert zusehen müssen, wie sich einer nach dem andern mit intensivem Lobbying für «systemrelevant» erklärte und die Hand nach Berns ausserordentlichen Stützungsgeldern ausstreckte: reiche Fussball- und Hockeyclubs mit ihren hoch bezahlten Starspielern, Reiseveranstalter, Privatversicherer, Eventfirmen, Künstlerkollektive. Sie alle erklärten sich nun für unverzichtbar, systemrelevant und unterstützungswürdig.

Anti-Etatisten in der Defensive

Die wirtschaftsliberalen Staatskritiker, die notorischen Libertären und Anti-Etatisten sind in diesem Jahr in der Defensive. Symptomatisch für diese weltanschaulichen Brüche war die aggressive journalistische Keule des NZZ-Chefredaktors Eric Guyer: Gleich nach der ersten Hilfsserie des Bundes schmetterte er den Alarmruf »bitte kein Seuchensozialismus» nach Bern. Und “Weltwoche”-Chefredaktor Roger Köppel unterstellt später der Regierung einen »Zombie-Sozialismus».

Seither richten Anti-Etatisten ihre Verbalkeulen gegen den «Corona-Gehorsam», gegen den «virologischen Imperativ», gegen die angebliche Bedrohung der «Freiheitskultur» in unserer «freiheitlichen Wirtschaftsordnung».

Viele haben sich über solche Verunglimpfungen geärgert. Doch ich glaube, sie sind als Symptom der Hilflosigkeit und inneren Not der Wirtschaftsliberalen zu verstehen. Sie spüren es: Sie sind am Ende ihres Lateins und ihrer Glaubwürdigkeit. Sie haben sich in den Augen des Publikums verrannt.

Dies belegen auch die folgenden Zahlen zur Unterstützung durch den Bund.

  • Auf dem Höhepunkt der ersten Welle, im April 2020, waren 1,3 Millionen Beschäftigte in 150‘000 Betrieben auf Kurzarbeitsentschädigung angewiesen.
  • Insgesamt 136‘000 Firmen mussten vom Bund Liquiditätshilfen beanspruchen.
  • 236‘000 weitere Betroffene mussten im Laufe des Jahres mit Corona-Erwerbsersatz aus der EO unterstützt werden.
  • Und ab 2021 beziehen weitere Tausende über ihren Wohnkanton zusätzliche Milliarden Franken an Härtefallentschädigungen, die der Bund bereitstellt.

Die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer, dies ist die Lehre aus dieser Zeitenwende, besinnen sich wieder auf das Gemeinwohl. Die Gesellschaft braucht den Staat, so ist ihre Realitätserfahrung. Die Akzeptanz der Service-public-Leistungen und staatlichen Institutionen – etwa des Gesundheitswesens oder der Postdienste – ist schlagartig ins Zentrum gerückt.

Allerdings unterliege ich nicht der Illusion, diese Zeitenwende so radikal zu interpretieren wie jene Gesellschaftsutopisten, die mit der krisenbedingten Stärkung des Staatsverständnisses gleich eine «Nachhaltigkeitsrevolution» (Harald Welzer), das ersehnte «Nullwachstum», die «Klimarevolution» oder gar die «Überwindung des Kapitalismus» herbeibeschwören.

«Jede Bewegung läuft Gefahr, in einer Sackgasse zu enden.»

Wir haben in den letzten Jahren zwar sehr wichtige gesellschaftliche Bewegungen erlebt. Doch jede Bewegung läuft auch Gefahr, von fundamentalistischen Exzessen radikalisierter Gruppierungen in eine Sackgasse manövriert zu werden. Ein aktuelles Beispiel ist die Bekämpfung des CO2-Gesetzes durch radikalisierte Klimaaktivisten.

Kampf ums Impfen steht bevor

Diese Jahreswende 2020/21 wird dank der Corona-Impfung wohl den ersehnten Strategiewechsel in der Pandemiebekämpfung einläuten. Aus einem Krisenregime schrittweise auszusteigen, ist allerdings führungsmässig viel anspruchsvoller, als ein solches hochzufahren.

Aus statistischer Sicht ist eine breite Impfstrategie das wirksamste Instrument der Epidemiebewältigung. Doch die Impfgegner sind aktiv. Obwohl sie eine kleine radikale Minderheit sind, ist ihr Verführungspotenzial gegen die Durchimpfung nicht zu unterschätzen.

«Wer die Impfung verweigert, gefährdet andere.»

Eine individuelle Abneigung gegen das Impfen ist zu respektieren. Aber jeder Impfverweigerer ist auch ein potenzieller Gefährder anderer. Nach geltender Gesetzgebung darf der Staat nicht generell eine Impfpflicht durchsetzen. Doch er sollte bald indirekt wirken, indem er Fluggesellschaften, Restaurants und Hotels, Clubs und Discos, Kultur- und Sportveranstalter schrittweise von Auflagen entlastet, wenn sie von ihrem Publikum einen Impfausweis fordern. Das wird Wirkung zeigen! Jedermann hat dann immer noch die Freiheit zu wählen.

Nach dieser Pandemie-Erfahrung werden Sozialpolitiker aller Parteien die mangelnde soziale Abdeckung von Erwerbsrisiken überprüfen müssen. Neben der geltenden Arbeitslosenversicherung mit der hocheffizienten Kurzarbeitsentschädigung braucht es eine Versicherung gegen Erwerbslosigkeit für Selbstständige, Scheinselbstständige, Einpersonenfirmen, Künstlerkollektive.

Sie sparen sich heute Beitragsleistungen an die Arbeitslosenversicherung, doch in dieser Krise beziehen sie gesamthaft enorme Sonderleistungen aus Steuergeldern. Nach Einführung einer erweiterten obligatorischen Erwerbsersatzversicherung für alle soll strikt nur noch Entschädigung erhalten, wer auch Beiträge einbezahlt hat.

Der Schuldenberg ist gewaltig

Im nächsten Jahr ist wieder ein Wirtschaftswachstum zu erwarten. Aber die schwierigste langfristige Nach-Corona-Bewältigung wird im kommenden Jahrzehnt der öffentliche Schuldenberg sein. Der Bund hat in diesem Jahr für Corona-Massnahmen 31 Milliarden Franken Ausgaben und weitere 41 Milliarden für Bürgschaften und Garantien bewilligt. Wir alle sind Keynesianer geworden und praktizieren, der Not gehorchend, eine Krisenbewältigung mittels Staatsverschuldung. Jede andere Alternative wäre indes teurer.

Auch unsere orthodoxen und wirtschaftsliberalen Ökonomen haben sich kleinlaut und opportunistisch dem Realitätsdruck gebeugt.

Weltweit ist die gigantische Staatsfinanzierung mit der Notenpresse (Credit Easing) allerdings schon lange eine strukturelle Normalität. Dieses Jahr ist sie in den USA, im Euroraum, in Japan und Grossbritannien noch massiv aufgestockt worden. Die amerikanische Notenbank Fed will diese Politik bis mindestens 2024 weiterziehen. Wir stehen vor einem weiteren Tiefstzins-Jahrzehnt. Die Welt-Finanzarchitektur hat sich verändert. Die Staatsfinanzierung über die Notenpresse ist irreversible Normalität. Unsere orthodoxen Geldpolitiker wollen diese neue Realität nicht wahrhaben.

Wie das Problem der Staatsverschuldung dereinst gelöst werden wird, ist offen. Aber eines ist sicher: Kein Staat wird seine Schulden je an die Notenbank zurückzahlen können! Diese Staatsschulden werden irgendwann abgeschrieben oder – noch eleganter – von den Notenbanken in nicht rückzahlbare, unverzinsliche (sogenannt ewige) Schulden umgewandelt.

Absurder Sonderfall

Die Eidgenossenschaft, die bisher alle Staatsausgaben aus Steuern finanzierte, erscheint in diesem Licht als Sonderfall. Doch in den nächsten Legislaturperioden wird sich auch bei uns jeder Finanzminister, gleich welcher Partei, mit der Gewinnablieferung, Vermögensbewirtschaftung und Governance der Schweizerischen Nationalbank auseinandersetzen müssen. Die über 1000 Milliarden Franken Vermögen der Nationalbank und ihre mehr als 50 Milliarden Ausschüttungsreserven aus effektiven Kapitalerträgen sind Volksvermögen.

Nötig sind gesetzliche Regeln für die Bewirtschaftung und die Gewinnabführung an Kantone und Bund. Das vom dreiköpfigen SNB-Direktorium eigenmächtig erweiterte Unabhängigkeitsdogma lässt sich auf Dauer nicht rechtfertigen. Es wäre geradezu eine Absurdität des Sonderfalls Schweiz, wenn künftige Historiker dereinst rückblickend berichten müssten: In allen westlichen Industriestaaten seien die Corona- und Finanz-Schulden durch die Notenbanken finanziert und später abgeschrieben worden. In der Schweiz jedoch hätte man sie durch die Steuerzahler und durch Kürzungen staatlicher Leistungen bezahlt. Das wäre ein zu hoher Preis für ein überholtes Dogma.

Rudolf Strahm ist ehemaliger SP-Nationalrat. Von 2004 bis 2008 war der Ökonom und Chemiker nationaler Preisüberwacher.

Publiziert am 29. 12. 2020 um 06:14 Uhr in TA-Online