Ohne Inländervorrang geht es nicht.

Kolumne im Tages-Anzeiger – Dienstag, 13. Januar 2015

Die Spitäler beklagen lauthals den Mangel an Pflegepersonal – und doch waren im Dezember 5300 Gesundheitsfachleute arbeitslos gemeldet.
Die Banken und die Informatikbranche geben an, sie könnten nur noch im Ausland Fachpersonal finden – und doch sind 3717 Fachleute aus dem Bankensektor sowie 3061 Informatiker als Arbeitslose registriert.
Die Unternehmen beklagen Kadermangel und rekrutieren laufend Jungmanager im Ausland. Gleichzeitig sind bei den Regionalen Arbeitsvermittlungsstellen (RAV) 7633 Arbeitslose der Kategorie Unternehmer/ Direktoren/leitende Beamte registriert; ebenso 2103 Ingenieure.
Die RAV melden 13 814 Arbeitslose aus dem Gastgewerbe und 19 591 Arbeitslose aus dem Bau; beides Branchen, die massenhaft neues Personal im Ausland rekrutieren. Gewiss eignen sich nicht alle der arbeitslos gemeldeten Fachpersonen für die ausgeschriebenen Stellen. Aber es soll niemand behaupten, diese als arbeitslos registrierten Fachkräfte seien allesamt ungeeignet!

Der Fachkräftemangel ist zunehmend ein Vorwand, um jüngere, billigere Fachpersonen aus dem Ausland anzustellen, die 1000 oder 2000 Franken pro Monat tiefer entlöhnt werden. In den letzten Jahren hat sich ein ganzes Heer von Personalvermittlungsfirmen etabliert, die über die Grenze hinweg gegen gute Honorare von 10 000 bis 20 000 Franken pro Vermittlungsfall für Spitäler, Banken oder Hotelbetriebe Personen im Ausland anwerben. Innert weniger Jahre hat sich diese grenzüberschreitende Praxis der Personalrekrutierung eingeschliffen. Da tönt es wie ein Hohn, wenn die Spitzen der Industrieverbände – wie sie es letzte Woche taten – beteuern, man würde nun freiwillig mehr Personal im Inland suchen. Gleichzeitig haben sie vom Staat gefordert, er solle in Spitälern, Schulen, Heimen, Tagesstätten einen Personalstopp verordnen. Dazu angestachelt hat sie zuvor das Seco.
Wir haben einen versteckten, schleichenden Verdrängungseffekt von schweizerischen und ausländischen Beschäftigten im Inland. Die steigende Sockelarbeitslosigkeit ist Beleg dafür. Der Arbeitslosensockel umfasst jene Zahl von Arbeitslosen, die nach Jahren guter Konjunktur dennoch erwerbslos bleiben. In den 80er-Jahren lag die Sockelarbeitslosigkeit bei 15 000, Anfang der 2000er-Jahre bei 60 000. Heute liegt der untere Sockel trotz guter Konjunkturlage bei 130 000 registrierten Arbeitslosen.

Ein stilles Drama spielt sich bei den Arbeitnehmenden über 50 Jahren ab. Wenn sie im Zuge einer Reorganisation, einer konjunkturellen oder saisonalen Schwankung ihren Job verlieren, haben sie kaum mehr Chancen auf eine feste Anstellung. Das trifft auch bestqualifizierte, hoch gebildete Fachkräfte, Ingenieure, Betriebswirtschafter, Kaderleute, Manager.
Ich habe Dutzende von Zuschriften mit persönlichen Schicksalen erhalten, und ich kenne die Szene auch vonseiten der Berufs- und Laufbahnberater (bei deren Ausbildung ich tätig bin). Es spielen sich persönlich-berufliche Dramen ab, die mich wütend und betroffen machen und mich auch fragen lassen, weshalb die Linke und die Gewerkschaften durch ihre Personenfreizügigkeitseuphorie ihre frühere Basis derart im Stich lassen.
Die gebräuchlichen Arbeitsmarktindikatoren wie Arbeitslosenquote und Erwerbslosenstatistik bilden die Verdrängungs- und Ausgliederungseffekte der älteren Arbeitnehmenden nicht ab. Rund 50 000 Beschäftigte über 50 sind in den letzten fünf Jahren ausgesteuert worden. Ausgesteuerte und Ausgegliederte werden schon gar nicht weiter erfasst. Deshalb kennen die Seco-Funktionäre und ihre beauftragten Professoren, die am Schreibtisch über der Statistik brüten, die Wirtschaftswirklichkeit nicht.
Trotz statistischer Mängel gibt die markant abfallende Erwerbsquote ab dem 55. Altersjahr einen Hinweis: In der Altersgruppe 55 bis 59 werden von jedem Jahrgang rund 6000 Arbeitnehmer vor ihrer Frühpensionierung unwiderruflich aus dem Arbeitsmarkt ausgegliedert. Auf die ganze Altersgruppe hochgerechnet sind dies 30 000 Personen! Daraus werden schliesslich Hunderttausende ältere Arbeitnehmer, die solche existenzielle Ängste teilen und sich dementsprechend ihre politische Meinung bilden.
Es ist nicht verwunderlich, dass die Altersgruppe der 50- bis 60-Jährigen mit 62 Prozent Ja-Stimmen (18 Prozentpunkte mehr als die Gruppe der 40- bis 50-Jährigen) den Ausschlag für die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative gegeben hat. Die Menschen stimmen eben auch aufgrund ihrer Erfahrung und realen Ängste und nicht einfach aus Fremdenfeindlichkeit und Abschottungsideologie, wie es Politologen und praxisentfremdete Intellektuelle suggerieren.
Der Trend ist eindeutig: Wir haben einen stillen Verdrängungseffekt am Arbeitsmarkt. Doch ins Dilemma stürzt uns die Frage: Was kann man denn angesichts des engen aussenpolitischen Spielraums tun?

Je länger ich den Arbeitsmarktmechanismus studiere und je mehr ich mit Erfahrungen von Beratungs- und Coachingpersonen konfrontiert bin, komme ich zum Schluss, dass es nicht ohne einen sanften Inländervorrang geht: Firmen müssen wieder zuerst im Inland Mitarbeiter suchen, bevor sie Personal im Ausland rekrutieren. Diese Praxis ist bei uns für Drittstaatenangehörige bereits eingespielt.
Der Inländervorrang sollte differenziert und mit einem Indikatorenmodell verknüpft werden, welches den echten Fachkräftemangel branchenweise identifiziert. Man kann diesen auch mit der von den Industrieverbänden geforderten Schutzklausel verbinden. Auch andere Länder wenden de facto einen Inländervorrang an. In Finnland etwa müssen alle Finnisch können. Man darf sich nur nicht vom Dogma der totalen Marktliberalisierung einschüchtern lassen.
Mit Appellen an die Freiwilligkeit der Unternehmen geht es nicht. Die Beschwörungsformel für Selbstverantwortung ist längst unglaubwürdig geworden. Wer in Zukunft ohne Rücksicht auf die Arbeitnehmer 50-plus-Politik macht, den werden die Wähler 50 plus abstrafen.

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