Kolumne im Tages-Anzeiger – Dienstag, 23. Dezember 2014
Mit grossen Worten hat der Bund im August 2011 eine Fachkräfteinitiative angekündigt. Nach Annahme der Masseneinwanderungsinitiative rief Bundesrat Johann Schneider-Ammann sie wiederholt in Erinnerung. Mit Fug und Recht darf man heute fragen: Was hat sich in den letzten dreieinhalb Jahren konkret getan?
Der Alarmbegriff vom «Fachkräftemangel » wird oft zur Rechtfertigung der Zuwanderung ins Feld geführt, aber er wird oft auch missverstanden und missbraucht. Der Fachkräftemangel ist nicht generell ein Akademikermangel. Zu wenig Fachkräfte haben wir bei ganz spezifischen Berufen, etwa bei Ärzten, Pflegefachkräften, Informatikern und Ingenieuren oder bei Fachpersonen mit höherer Berufsbildung wie Meistern und Technikern. Dieser Fachkräftemangel ist grösstenteils hausgemacht und selbst verschuldet, wie ein Blick auf die einzelnen Berufsfelder, wo es zu wenig Nachwuchs gibt, zeigt.
Stichwort Ärztemangel: Rund 4000 Schweizer Maturandinnen und Maturanden melden sich jährlich für ein Medizinstudium an. Es herrscht ein Numerus clausus, weil es nur 1200 Studienplätze für Humanmedizin landesweit gibt. Nicht einmal jeder Dritte, der Arzt werden möchte, kann studieren. Dafür werden durchschnittlich 1200 Ärzte jährlich im Ausland rekrutiert.
Im Klartext heisst das: Statt Schweizer Jugendlichen genügend teure Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, wird billig auf ausländisches Fachpersonal ausgewichen. Die Personenfreizügigkeit macht es möglich. Ab 2017 soll es nun 300 Studienplätze mehr geben. Noch einmal einige Jahre dürften verstreichen, bevor die zusätzlichen Ärzte auch wirklich praktizieren. Die Neuausgebildeten werden nur gerade die pensionierten Ärzte ersetzen. Eigentlich bräuchte es 1000 zusätzliche Studienplätze.
Stichwort Pflegepersonalmangel: Im letzten Jahrzehnt wurden durchschnittlich 3500 Pflegefachkräfte jährlich ausgebildet. Das entsprach etwa der Hälfte des Bedarfs. Zwar ist die Zahl der Ausbildungsplätze in den letzten drei Jahren deutlich erhöht worden. Aber den steigenden Bedarf vermag das noch längst nicht abzudecken. Dem Lehrstellenbarometer zufolge haben dieses Jahr 4500 Jugendliche, die einen Pflegeoder Betreuungsberuf (Fage und Fabe) erlernen wollten, keine Lehrstelle gefunden. Mittels Leistungsaufträgen müsste man den Spitälern die Vorgabe machen, mindestens 8 Lehrstellen pro 100 Beschäftigte anzubieten. Das läge in der Kompetenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren.
Stichwort Informatiker und Ingenieure: Wir haben einen grossen Ausbildungsmangel in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik (kurz: Mint-Berufe). Die IT-Branche bietet Jahr für Jahr 1000 bis 2000 Lehrstellen zu wenig an – und klagt gleichzeitig ständig über Fachkräftemangel. Derweil sind die Gymnasien einseitig sprachlastig ausgerichtet, was begabten Jugendlichen den Zugang erschwert, wenn sie – wie gerade bei Jungen oft der Fall – mässig in Fremdsprachen sind. Der Schweizerische Bildungsbericht 2014 und unzählige frühere Berichte kritisieren diese Negativselektion.
Der Kanton Aargau hat vorbildlich reagiert und an seinen Kantonsschulen die Nawimat geschaffen, die naturwissenschaftlich- mathematische Maturität, die mathematisch Begabten den Zugang zum Ingenieur- und Informatikstudium öffnet. Mehrere andere Kantone experimentieren unkoordiniert mit neuen Modellen herum, der Widerstand der Gymnasiallehrer ist beträchtlich. Und der Bund beruft sich in der Frage auf die Autonomie der Kantone. Mit Empfehlungen könnte er allerdings koordinierend wirken.
Stichwort Kader: Unternehmensbefragungen ergeben regelmässig, dass entgegen gängiger Meinung nicht etwa Akademiker zahlenmässig die gesuchtesten Fachkräfte sind, sondern die Absolventen einer höheren Berufsbildung: also Techniker, Meister etc. Doch ausgerechnet die titelmässige Aufwertung der höheren Berufsbildung (sog. Titeläquivalenz) ist vom Ständerat in der letzten Session abgelehnt worden: auf Antrag von Wirtschaftsminister Schneider-Ammann. Ein Eigengoal par excellence.
Wir rekapitulieren: Mit der Personenfreizügigkeit hat man die Ausbildungslücken im Inland lange Zeit überbrückt und verdrängt. Spätestens seit 2008 ist aber klar, dass wir zu wenig Ärzte, Pflegepersonal, Informatiker und Ingenieure ausbilden. 2011 kündigte Bundesrat Johann Schneider-Ammann eine Fachkräfteinitiative an. Seit 2013 existiert ein Konzept für einen Massnahmenplan. Doch Ende 2014 sind noch immer keine griffigen Massnahmen beschlossen. Zu viele Amtsstellen in Bern sind involviert. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) sollte die Führungsrolle übernehmen, das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) seine Verantwortung nicht einfach auf die Kantone abschieben. Am weitesten ist heute das Bundesamt für Gesundheit, weil es im Pflegebereich mit den Kantonen zusammengespannt hat.
Eigentlich möchten wir alle einen schlanken und effizienten Staat. Aber erstens verhindern Föderalismus und Kantönligeist wirksame nationale Strategien. Zweitens fehlt im Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung in Bern die Führung. Und drittens steht allen Lenkungsmassnahmen die überholte liberale Doktrin des Laisser-faire und der Selbstregulierung entgegen. Dabei liegen Ärzte- und Pflegepersonalausbildung, Maturitätsund Hochschulzugang praktisch ausschliesslich in staatlichen Händen und werden vom Steuerzahler finanziert. Warum kann und soll der Staat diese Ausbildungen nicht auch steuern?
Für griffige Entscheidstrukturen braucht es angesichts des Führungsmalaise vorübergehend einen Delegierten auf der Stufe eines Staatssekretärs, der die Kompetenz zur Koordination und Implementierung einer landesweiten Strategie erhält. Der Fachkräftemangel, der auf einem Steuerungsdefizit im Bildungsbereich beruht, wurde bisher durch Personalrekrutierung im Ausland zugedeckt. Erst seit Februar 2014 wird er ernsthaft wahrgenommen und diskutiert. Doch vor dem Jahr 2020 werden die vorgesehenen Massnahmen nicht greifen. Das ist viel zu spät.