Aktivisten gegen Macher in der Klimapolitik

Blockaden von Radikalisierten bringen die Bevölkerung gegen den Klimaschutz auf. Umso wichtiger sind die Realisten, die jetzt aktiv werden.

Kolumne von Rudolf Strahm in TA-Media vom 25.  10. 2022

Ein halbes Dutzend Klimakämpfer, die sich auf der Autobahn festkleben und sich nach schwieriger Loslösung des Sekundenklebers forttragen lassen: Was das alles an Emotionen auslöst! Autofahrer werden wütend und verwünschen die Klimapolitik. Bürger lesen darüber irritiert die Schlagzeilen. Nur wenige können noch Sympathie aufbringen.

Die Klimabewegung im Gefolge von Greta Thunbergs Aufbruch 2018 brachte eine produktive Wiederbelebung der eingeschlafenen Klimapolitik. Ihren Höhepunkt erreichte sie mit der grossen nationalen Demo auf dem Bundesplatz kurz vor den Nationalratswahlen 2019.

Doch heute, drei Jahre danach, sind nur noch einige Dutzend Klimakämpfer verblieben, die als Desperados mit Schlagworten wie «Renovate Switzerland» und «Extinction Rebellion» auf sich aufmerksam machen. Ihre fast apokalyptischen Weltuntergangsszenarien werden zur Selbstinszenierung. Das irritiert viele frühere Sympathisanten. Aber die Bevölkerung sorgt sich jetzt mehr um die Stromversorgung in den nächsten Wintern.

Verknurrt die Autobahn-Blockierer und ihre Helfer

mit zehn Tages-Arbeitssätzen zu einem Praktikum bei einem Solarpanel-Monteur!

Solche Autobahnblockaden sind strafbar. Aber den Strafrichtern würde ich raten: Verhängt nicht bloss Bussen, sonst macht ihr sie nur zu Helden und Märtyrern. Verknurrt die Schuldigen und ihre Helfer besser mit zehn Tages-Arbeitssätzen zu einem Praktikum bei einem Solarpanel-Monteur, einem Wärmepumpen-Installateur oder einem Fassaden-Isoleur! Der Lerneffekt wäre dann reales «Renovate Switzerland». Denn es warten noch anderthalb Millionen Gebäude auf die energetische Renovierung. Die Solar-, Wind-, Wärmepumpen- und Sensortechnologien für die Dekarbonisierung sind zwar längst ausgereift. Doch der Engpass ist bei den gelernten Fachkräften. Sie sind die entscheidenden Macher in der Energiewende.

Nach Jahren idealistischer grüner Klimadebatte und seit Beginn des Krieges im Osten gibt es jetzt Klärungen und mehr Pragmatismus. Realistische Einsichten greifen und werden auch umgesetzt. 

  • Erstens ist man weggekommen von der Fehleinschätzung, Energiesparen und Energieeffizienz seien mit Energiepreis-Zuschlägen (und deren Rückerstattung) zu erreichen. Selbst fünfzig- oder hundertprozentige Preisaufschläge haben kaum nachhaltige Einsparungen ausgelöst. Vielmehr herrscht jetzt die realistischere Einsicht, dass es für die Energiewende eine langfristige Investitionsförderung mit Investitionsanreizen für Solar, Wind, Wasserkraft, Wärmepumpen und Gebäudeisolationen braucht.
  • Zweitens hat Realismus zur Fotovoltaik Platz gegriffen. Es braucht nicht nur die preisgünstigen Solarpanels, sondern auch zugehörige Wasserspeicher-Anlagen. Für jede Solar- und Windanlage braucht es Stauseen und Pumpspeicherwerke, um die Stromschwankungen bei Tag/Nacht, Sommer/Winter und Sonnenhimmel/Wolkenhimmel auszugleichen. Solarfreaks hatten oft nur die Fotovoltaik-Kosten am Panel vorgerechnet. Man muss aber die Systemkosten gesamthaft berücksichtigen. Denn es braucht im Elektrizitätsnetz primär Systemstabilität. Auch die neuerliche Planung von Grossanlagen im Alpenraum ist ein Zeichen von neuem Realismus. Die erste Pilotvorlage mit der unentbehrlichen Verfahrensbeschleunigung zur Fertigstellung des blockierten Grimsel-Stauwerks sowie zunächst bei zwei Solar-Grossanlagen in Gondo und Grengiols ist wegleitend. Nur braucht es danach realistischerweise hundert davon.
  • Drittens wuchs die Einsicht selbst in breiten bürgerlichen Kreisen, dass der freie Markt mit kontinentalem Stromhandel und oft spekulativen Termingeschäften keine Versorgungssicherheit garantiert. Er bringt mehr Schaden für die Wirtschaft. Selbst der Gewerbeverband und unzählige KMU, Hotels und Kommunalwerke möchten vom liberalisierten Stromhandel wegkommen und wieder in die Grundversorgung mit Festpreisen zurückkehren – was heute aber die Marktgesetze verhindern. Elektrizitätswerke und Stromnetze sind sensible Infrastruktur. Sie sind «too big to fail» und erfordern eine Regulierung als Service public.

Es gibt allerdings auch Realitätsverweigerer und Marktideologen. Der Zürcher FDP-Regierungsratskandidat Peter Grünenfelder fordert jetzt als Direktor des konzernnahen Thinktanks Avenir Suisse einen «Befreiungsschlag» zur vollständigen Privatisierung und Liberalisierung der Elektrizitätsunternehmen. Wer verhilft dem ultraliberalen Thinktank-Chef zu mehr wirtschaftlichem Realitätsbezug?

«Wir sparen, doch der Stromexport boomt», schrieb diese Zeitung letzte Woche. Es ist grotesk, dass der Bund den Staatsunternehmen wie Axpo, BKW, Alpiq Hunderte Millionen Franken vergüten muss, damit sie eine Wasserreserve zurückbehalten. Für solche Staatsbetriebe braucht es ein neues Korsett mit Priorität auf Versorgungssicherheit und unentgeltlichen Pflichtreserven in Stauseen. Die Carbura mit ihren Benzin- und Öl-Pflichtlagern ist Vorbild. Dazu braucht es neues Bundesrecht, denn die Kantone allein schaffen das nicht!

Bei den Baukonzessionen für die Stromproduktionsunternehmen muss in Zukunft gelten: Begrenzte, ausgewogene Landschaftsnutzung gegen Versorgungssicherheit. Das ist die nächste grosse Landesaufgabe.

Publiziert in Tages-Anzeiger, Der Bund, TA-Online,  25. Oktober 2022