Mangel an Energiefachkräften behindert die Energiestrategie

Kolumne von Rudolf Strahm  in TA-Media, TA-Online  22. 11. 2022

Ob Solarfachleute, Bauplaner, Bohrspezialisten oder Installateure: In der Schweiz fehlen Hunderte «Berufspraktiker», um die Energieversorgung klimaverträglich zu machen.

Langsam kommt es an den Tag: Der anvisierte Zeitplan für die Energiestrategie in Richtung Versorgungssicherheit und Dekarbonisierung wird scheitern am Mangel an praxisorientierten Berufen, die die Anlagen planen, bauen und installieren.

Derzeit sind 500 Stellen von Solarfachleuten unbesetzt, und die Wartefristen dauern ein Jahr. Das Installationstempo zur Energiewende wird durch den Praktikermangel auf der ganzen Linie begrenzt. Zur Erreichung der Ziele der Solarstromproduktion bis 2035 bräuchte es jährlich tausend gelernte Fachkräfte mehr. Derzeit behilft man sich mit der Umschulung von Berufsleuten aus dem Bau oder der Gebäudetechnik.

Was in der Solarszene abläuft, zeigt sich genauso in der Wärmepumpentechnik. Auch dort braucht es jährlich mindestens tausend zusätzliche gelernte Bauplaner, Bohrspezialisten und Installateure. Die Energiewendepolitiker, Klimaspezialisten und Politologen hatten am Schreibtisch den Faktor «Berufspraktiker» vernachlässigt. Die Klima- und Energiepolitik wird jetzt pragmatischer.  

Nun hat kürzlich das Staatssekretariat SBFI, initiiert von innovativen Fachverbänden wie Swissolar, zwei neue Berufe anerkannt: Die zweijährige Berufslehre EBA zu Solarmonteuren, die die Solarpanels für 30 Jahre wetterfest auf Dächern oder Alphängen montieren. Und die dreijährige Berufslehre EFZ zu Solarinstallateuren oder «Solarteuren», welche die elektrischen Anlagen und Wechselrichter zur Netzrückspeisung des Stroms installieren.

Darüber hinaus fehlen auf der oberen Karrierestufe der Höheren Berufsbildung auch die Techniker, Montageleiter, Bauplaner – Männer und Frauen! Diese mittleren Kader und Teamchefs sind die entscheidenden Schlüsselpersonen, die die Auslegung der Anlagen berechnen, Offerten stellen und massgeschneiderte Baupläne entwickeln. 

Seit Jahrzehnten verfolgte ich für meine Uni-Dozententätigkeit bei Berufsberaterinnen die Arbeitsmarktentwicklung aus der Optik der Berufe. Was zu beobachten ist: Der Fachkräftebedarf verschiebt sich in Richtung qualifizierter Praktiker. Die Universitäten und Gymnasiallehrpersonen bemühen zwar stets den Fachkräftemangel zur Rechtfertigung ihrer akademischen Bildungsverläufe. Sie liegen falsch. Richtig ist, dass es einen Ärztemangel und einen Mangel an Ingenieuren, Informatikern und Mint-Berufen gibt, aber nicht generell einen Akademikermangel. 

Der Ärztemangel wird heute überlagert durch den Mangel an ausgebildeten Pflegefachpersonen Fage und Fabe. Der Ingenieurmangel wird relativiert durch den grösseren Mangel an Technikern, Installateuren und Monteuren. Der Mangel an Uni-Informatikern durch den viel grösseren Bedarf an Informatik-Applikationsfachleuten auf der Stufe Berufslehre und Höhere Fachschule oder Fachhochschule. 

Diese Fachkräfte mit der Höheren tertiären Berufsbildung – also nach einer Höheren Fachschule, Berufsprüfung oder Höheren Fachprüfung – sind die wichtigsten «Technologiediffusionsagenten» in der Wirtschaft, also die alles entscheidenden Verbreiter der Digitalisierung bei den 300’000 Unternehmen.

Eine Forschungsgruppe der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB) zeigte auf, dass die Absolventen der Höheren Berufsbildung (Tertiärstufe B) vom Arbeitsmarkt am meisten begehrt werden, mehr als Uniabsolventen und alle anderen Bildungsstufen. Sie sind nach dem Diplom auch häufiger und rascher als Kader unterwegs.

Demgegenüber verfügen nach der Hochschulabsolventenbefragung heute im Durchschnitt 28 Prozent der Uniabsolventen auch fünf Jahre nach dem Abschluss immer noch nicht über eine feste Anstellung. Bei den Fachhochschuldiplomierten sind es nur 5 Prozent.

Letzte Woche hat die Schweizerische Berufsbildungskonferenz mit Kantonen, staatlichen Bildungsstellen und Wirtschaftsverbänden unter dem Vorsitz von Bundesrat Guy Parmelin grünes Licht dazu gegeben, für bestimmte Typen der insgesamt 448 Abschlüsse und Berufsbezeichnungen der Höheren Berufsbildung den übergeordneten Titel des Professional Bachelor einzuführen.

Dies wird die Tertiär-B-Stufe sichtbarer machen und aufwerten. Es ist ein Durchbruch nach zehn Jahren Widerstand seitens der Hochschulen. Deutschland und Österreich hatten den Professional-Bachelor-Titel längst offiziell eingeführt.

In der Vernehmlassung hat Swissuniversities, der Dachverband der Hochschulrektoren, diesen neuen Titel aus rein standespolitischen Konkurrenzinteressen bekämpft. Genauso, wie er es ablehnt, dass erfahrene Erwachsene mit Berufslehre und Berufsmaturität wie im Kanton Bern zum Studium für den Lehrberuf an den Pädagogischen Hochschulen zugelassen werden.

Die akademische Szene verteidigt elitär und exklusiv ihre Standesinteressen! Sicher ist, die Exzellenzforschung an den universitären Hochschulen bleibt unangetastet und unentbehrlich. Aber der Arbeitsmarkt hat in aller Stille gekehrt: Er bevorzugt Fachkräfte mit Berufslehre und tertiären Weiterbildungen. Nach der Akademisierungswelle setzt er andere Prioritäten als bisher.

Publiziert am 22. 11. 2022 in Tages-Anzeiger, Der Bund, TA-OnliNE