Nach den Wahlen: Es braucht eine realistische Gesundheitsreform

Tribüne “DER BUND” vom 30. 10. 2023 S.10

In den Wahlen waren die steigenden Gesundheitskosten ein Hauptthema. Nach der Wahlkampf-Rhetorik sind nun dringend politisch umsetzbare Lösungen gefragt.

Rudolf Strahm

Die steigenden Krankenkassenprämien waren bei den Nationalratswahlen das zweitwichtigste Thema für den Wahlentscheid der Bürgerinnen und Bürger, gleich nach dem Reizthema Zuwanderung. Anfänglich nur von der SP geplant, mussten die Gesundheitskosten schliesslich von allen Parteien thematisiert werden. Was da alles an Schuldzuweisungen, skurrilen Rezepten und schrägen Ideen, aber auch an prüfenswerten Reformkonzepten präsentiert worden ist! Nun liegt der Wahlkampf hinter uns, und das ermöglicht eine nüchterne Einordnung der anstehenden Reformmöglichkeiten.

Der Gesundheitssektor kostete letztes Jahr 88 Milliarden Franken oder 12 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Mit den vielen Nutzniessern, Stakeholdern und Finanzierungsquellen ist dieser die komplexeste Wirtschaftsbranche. Im nun auslaufenden Bundesparlament zählte man über 90 registrierte, zum Teil hoch bezahlte Interessenbindungen: darunter 21 Parlamentarier mit Lobbybeziehungen zu Ärzteverbänden, 16 zu Krankenkassen, 12 zur Pharmaindustrie – aber keine zu den Prämienzahlenden.

Der Lobbyismus ist zum Krebsgeschwür des Parlamentarismus geworden. Wer als Nächster oder Nächste Gesundheitsminister wird, muss sich mit den gleichen Lobbys und Reformblockaden herumschlagen.

Zwar hat der abtretende Bundesrat Alain Berset in seinen zwölf Amtsjahren manche Reform angestossen, aber namhafte Resultate erzielte er nur dort, wo sie im Kompetenzbereich des Bundesrats liegen: etwa die rund 1200 Millionen Franken Einsparungen bei den Medikamenten, 500 Millionen im Ärzte-Tarmed-System, 200 Millionen bei den Labortarifen und zuletzt noch 250 Millionen bei den zukünftigen Generika-Kosten. Aber im Parlament sind alle grundlegenden, systemischen Reformen an den widersprüchlichen Lobbys gescheitert.

Im komplexen Gesundheitswesen bräuchte es Reformansätze an vielen Fronten gleichzeitig: an der Preisfront bei Medikamenten, Geräten und Labortarifen, beim Abrechnungssystem für die Ärzte, bei der Gleichbehandlung der Spitalkosten von stationären und ambulanten Behandlungen. Aber auch an der Patientenfront mit einer Stärkung und Belohnung der Selbstverantwortung.

Eine verdeckte, wachsende Kostenentwicklung läuft bei der Bürokratie fern vom Patientenbett. Mit den Fallpauschalen (DRG-System) müssen die Spitalärzte heute ein Drittel ihrer Arbeitszeit – und die diplomierten Pflegefachleute mindestens ein Viertel – für das schriftliche Reporting zwecks Diagnosezuordnung aufwenden. Im gesamten Gesundheitsbereich braucht es Hunderte von gut bezahlten Codierern im Rechnungswesen bei Spitälern, Kassen und Rekursstellen. (Zuvor war der Preisüberwacher für Spitaltarife zuständig.) Eine neue Bürokratiekostenfalle droht mit einem sehr detaillierten elektronischen Patientendossier.

Seit der Einführung des Krankenversicherungsobligatoriums 1995 – das einen riesigen Fortschritt brachte – sind die Krankenkassenprämien jährlich um durchschnittlich 3,5 Prozent gewachsen, mal schneller, mal langsamer. Diese Kostenentwicklung wird weitergehen. Wer eine Kostenstabilisierung verspricht, streut Illusionen. Denn die Alterung der Bevölkerung, die Erweiterung der technischen und therapeutischen Möglichkeiten und psychische Erkrankungen, Übergewichtsfolgen, Sportverletzungen wachsen weiter. Man rechnet mit jährlich 2 bis 4 Prozent Kostenwachstum in Zukunft. Dies im Gleichschritt mit anderen Ländern.

Die SVP hat im Wahlkampf eine Ausdünnung des Leistungskatalogs für die Krankenkassen in Aussicht gestellt. Die FDP propagierte in Anlehnung ans Migros-Preissystem eine «Budget-Krankenkasse». Wer zahlt dann den Rest? Die Linke liebäugelt erneut mit einer nationalen Einheitskasse. Aber alle diese schönen Pläne werden an der harten Realität des Referendums auflaufen. Alle Reformpiloten unterschätzen die politische Sensibilität in der Gesundheitspolitik bei der Bevölkerung. Jeder Kraftakt, der nicht sozial ausgewogen ist, wird am Referendum scheitern. Nur mit Kompromisslösungen wird der Bundesrat Reformdurchbrüche erzielen!

Denkbar scheint mir eine Kompromisslösung für das teure, ineffiziente KV-System mit 50 Krankenkassen: Es sollten geografische Gesundheitsregionen gebildet werden, zum Beispiel eine Region Jura oder Region Oberland. Diese können für den schweizweit geltenden Leistungskatalog nach einer Ausschreibung der prämiengünstigsten Krankenkasse für fünf Jahre die alleinige Versicherungsdeckung für alle Bewohner ihres Gebiets zuschlagen. Diese einzige Kasse soll dann auch mit den Ärzten und Spitälern günstigere Tarife aushandeln. Also nach dem Prinzip «halb Wettbewerb – halb Steuerung»:

Trotz allen Bemühungen werden die Gesundheitskosten weitersteigen. Zwei Drittel der Bevölkerung sind in der Lage, die Prämien auch zu zahlen. Es ist das Privileg des Veteranen, dies offen auszusprechen, aktive Politiker tun dies nicht. Und für die Einkommensschwächeren und Familien mit Kindern müssen sich Bund und Kantone auf wachsende Prämienverbilligungen einstellen. Das erscheint wie eine Resignationslösung. Aber sie wirkt immerhin gezielt. Und sie ist einzig realistisch.

Rudolf Strahm war von 1991 bis 2004 Berner SP-Nationalrat und anschliessend bis 2008 eidgenössischer Preisüberwacher. Er äussert sich im «Bund» in unregelmässigen Abständen zum aktuellen politischen Geschehen.