Die Schweiz bildet zu viele Geisteswissenschaftler aus und zu wenige Berufspraktiker. Die Fachkräfteproblematik in bildungspolitischer und arbeitsmarktlicher Optik. (NZZ 26.7.2023 S.9)
Rudolf Strahm
Wer einen Heizungsinstallateur oder einen technischen Zeichner anstellen will, muss im Durchschnitt 75 Tage, also zweieinhalb Monate, suchen. Für das beste Fünftel dauert es sogar vier Monate. Stellen für Poliere, Sanitärinstallateure und zahlreiche weitere technische Kader bleiben im Durchschnitt mehr als zwei Monate offen, bei den anspruchsvollsten sogar drei bis vier Monate.
Der Schweizerische Arbeitgeberverband schätzt die Wertschöpfungsverluste durch die Vakanzen gesamthaft auf 5 Milliarden Franken pro Jahr.
Die Breite des Mangels belegen der Stellenmarkt-Monitor der Universität Zürich mit Adecco genauso wie der neue Vakanzdauer-Indikator der KOF/ETH, der die Anzahl Tage bis zur Wiederbesetzung von vakanten Stellen wiedergibt. Verblüffend ist demgegenüber, dies zeigt die gleiche Stellenvakanz-Erhebung, dass die ausgeschriebenen Arbeitsstellen für öffentliche Verwaltungen – diese betreffen grossmehrheitlich Uni-Absolventen – im Durchschnitt in weniger als 30 Tagen besetzt sind. Dies belegt, dass in diesen Berufen kein genereller Fachkräftemangel und teilweise sogar Überfluss vorherrscht.
Was läuft anders in der privaten Wirtschaft? Es sind, abgesehen vom konjunkturellen Aufschwung nach der Pandemie, hausgemachte, strukturelle Faktoren, die mit dem Bildungssystem zu tun haben – und diese werden oft verdrängt. Im Buch «Karriere mit Berufsbildung – Warum der Arbeitsmarkt Fachkräfte mit Berufslehre am meisten begehrt», an dem ich mitarbeitete, wurde die Fachkräfteproblematik in bildungspolitischer Optik durchleuchtet.
Der Arbeitsmarkt hat gekehrt
Der Arbeitsmarkt hat nämlich in den letzten Jahren in aller Stille gekehrt: Heute fehlen nicht primär Uni-Absolventen, sondern Fachleute mit Berufslehre, mit oder ohne anschliessende Weiterbildungen und Spezialisierungen auf der Tertiärstufe. Es fehlen vor allem die Techniker, Teamchefs, Gruppenleiterinnen, kurz die tragenden mittleren Kader in der Wirtschaft!
Der Ärztemangel, der weiterhin besteht, wird in den Spitälern überlagert durch den Mangel an diplomierten Pflegefachpersonen und Spezialistinnen für Intensivpflege, Palliative Care und anderen.
Im Energie- und Baubereich ist der grösste Engpass bei Solar-Monteuren und -Installateuren, bei Gebäudeinformatikern, Wärmepumpenspezialisten und Elektrotechnikern, die eine Projektauslegung berechnen und ein Team führen können.
Im Informatikbereich mangelt es nicht bloss an Top-Programmier-Cracks aus den Universitäten, sondern um ein Mehrfaches auch an IT-Applikationsentwicklern, Betriebs- und Wirtschaftsinformatikern, System- und Security-Technikern aus den höheren Fachschulen und Fachhochschulen.
Die Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung hat in einer Langzeitstudie aufgezeigt, dass der Arbeitsmarkt die Fachkräfte mit einer höheren Berufsbildung – also Absolventen einer höheren Fachschule, einer Berufsprüfung oder höheren Fachprüfung – mehr nachfragt als Uni-Absolventen.
Die 440 Berufsbezeichnungen in der höheren Berufsbildung sollen nun nach dem Willen von Bundesrat Guy Parmelin zu Recht mit dem übergreifenden Titel eines «Professional Bachelor» oder «Professional Master» aufgewertet werden. Mittlerweile wird dieses Vorhaben von allen Wirtschaftsverbänden mitgetragen. Einzig die Swissuniversities bekämpfen aus standespolitischen Gründen verbissen diesen in Deutschland und Österreich längst eingeführten Titel.
Berufsbildung und praktische Intelligenz erfordern mehr gesellschaftliche Wertschätzung. Je weiter die gymnasialen Maturitätsquoten hochgetrieben werden, desto mehr gerät die Berufslehre in ein soziales Stigma. Auch die Arbeitgeberschaft steht in der Pflicht: Weiterbildungsangebote und flexible Arbeitszeiten zur familiären Rücksichtnahme verbessern die Attraktivität ihrer Branche und ihrer Berufe.
Die arbeitsmarktliche Realität macht aber die Kehrseite der gleichen Medaille sichtbar: nämlich den Trend, wonach die Universitäten teilweise am Arbeitsmarkt vorbei ausbilden. Dies betrifft nicht die Ärzte, Ingenieure und weiteren Mint-Berufe (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik). Problematisch wird zusehends die Überzahl von Studierenden in Geistes- und Sozialwissenschaften – allein im Hauptfach Psychologie zählt man derzeit 13 000. In diesen beiden Fächergruppen studieren heute anderthalb Mal so viele wie in den exakten Wissenschaften und doppelt so viele wie in den technischen Wissenschaften.
Kluft der Kulturen
Die Hochschulabsolventenbefragung zeigt, dass durchschnittlich 48 Prozent der Uni-Absolventen ein Jahr nach Studienabschluss keine feste Anstellung haben (bei den Fachhochschulen nur 14 Prozent). Und noch fünf Jahre nach dem Studienabschluss verfügen im Mittel 28 Prozent von ihnen – mehr als ein Viertel! – nicht über eine feste Stelle (bei den Fachhochschulen nur 5 Prozent) – ein deutlicher Überfluss-Indikator, der mit den Berufs-Adäquanzanalysen bestätigt wird. Bislang wurden die vielen Uni-Absolventen von öffentlichen Verwaltungen und von wachsenden Konzernstäben aufgesogen. Wird das so weiterlaufen?
Festgestellt wird eine wachsende Kluft der Arbeitskulturen zwischen den gesuchten praxisorientierten Fachkräften mit Berufs- und Weiterbildungsabschlüssen einerseits und den teilweise abgehobenen und isolierten akademischen Berufen andererseits. Als Konsequenz manifestiert sich die sichtbare politische Spaltung zwischen der eher ländlichen, berufspraktischen KMU-Wirtschaftselite und einer auf Verwaltungen ausgerichteten, urbanen, akademisch geschulten Bildungselite. Das letzte Wort zu diesem Befund ist noch nicht gesprochen.
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Rudolf Strahm war SP-Nationalrat und Eidgenössischer Preisüberwacher. Er wirkte nebenamtlich als Dozentin für Berufs- und Laufbahnberaterinnen an den Universitäten Bern und Freiburg. Neuste Publikation: Ea Eller, Rudolf H. Strahm, Jörg Wombacher: Karriere mit Berufsbildung – Warum der Arbeitsmarkt Fachkräfte mit Berufslehre am meisten begehrt. Hep-Verlag, Juli 2023, 208 S.