Stabile Renten, Klimaschutz, sichere Arbeitsplätze und 12 Euro Mindestlohn: Dank klaren und für Wähler relevante Botschaften statt Gender-Parolen hat die SPD die Wahlen gewonnen.
Von Rudolf Strahm in TA-Medien 5.10.2021 (Tages-Anzeiger, Bund, TA-Online , Schweiz)
So hatte man es nicht erwartet. Der Wahlsieg der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands war die grosse Überraschung. Noch vor kurzem dümpelte die früher regierungserprobte SPD in Umfragen und Regionalwahlen bei 12 Prozent. Nun erreichte sie 25,7 Prozent der Wählerstimmen.
Noch im Frühjahr wurde die SPD für bedeutungslos und «klinisch tot» erklärt. Fast europaweit – auch in Frankreich, Italien und Holland – hielt man das historische Versinken der Sozialdemokratie in der Bedeutungslosigkeit für unausweichlich. Der wirtschaftliche, globale Strukturwandel hatte ihre Wählerbasis dezimiert. Und vor allem ihre polarisierenden Positionen in der Migrationsfrage hatten die traditionellen Wählerschichten vertrieben.
Nun aber hat die SPD zwei Millionen Wähler von der CDU/CSU zu sich gezogen. Noch weiss man nicht, ob die Regierungsbildung unter Olaf Scholz gelingt, aber sein Wahlerfolg lässt sich recht klar analysieren.
Der erste Befund basiert auf dem eingängigen Wahlprogramm des Olaf Scholz. Manche verhöhnten es als langweilig. Mit seiner langjährigen Regierungserfahrung galt er als solid und glaubwürdig. Seine Plakatslogans wurden mithilfe des gewieften Aargauer Werbers Dennis Lück gezimmert: «Jetzt 12 Euro Mindestlohn wählen. Scholz packt das an.» Oder: «Kanzler für bezahlbares Wohnen.» Oder: «Kanzler für stabile Renten.» Man sah keine politisch-ideologischen Glaubensbekenntnisse, sondern verständliche Botschaften, die die Grundbedürfnisse der breiten Bevölkerung ansprach.
In jeder Ortschaft fand man dieses verständliche Versprechen auf den Scholz-Plakaten für 12 Euro Mindestlohn pro Arbeitsstunde! Über ein Fünftel der deutschen Arbeitnehmenden leben heute mit Tieflöhnen im Prekariat. Mit Hunderttausenden von Billigarbeitern aus Osteuropa in deutschen Fabriken ist das löchrige Versprechen der EU vom «gleichen Lohn für gleiche Arbeit» längst unterlaufen worden. Dem Vernehmen nach hatte Scholz diesen Mindestlohn-Schwerpunkt ganz persönlich und prioritär gepusht. Damit wollte er auch den früheren, SPD-schädigenden Fehler des Konzepts von Hartz IV, bei dem er vor zwei Jahrzehnten beteiligt war, überwinden.
SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil gelang es, die vulgärmarxistischen Rhetoriker und Lifestile-Linken stumm zu schalten.
Ein zweiter Befund, der wohl matchentscheidend wurde: In der publikumswirksamen Breitenwerbung und bei Auftritten gab es keine verunsichernden, polarisierenden Themen von Identitären und der Lifestile-Linken. Keine Gender-Parolen, keine LGBT-Appelle, keine Rassismusvorwürfe, auch keinen Bezug zu komplexen Asylfragen, die die Sozialdemokratie in ganz Europa ins Dilemma treiben und lahmlegen.
Zwar waren Antworten dazu in langen Parteidokumenten durchaus auffindbar. Es gab auch originelle SPD-Beiträge, die für Lacher in den sozialen Medien sorgten. Aber dem SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil, der seit 2017 die Partei zusammenhält, gelang das Kunststück, die vulgärmarxistischen Rhetoriker und Lifestile-Linken für den Wahlkampf stumm zu schalten. Starke Juso-Exponenten wie Kevin Kühnert konnten eingebunden werden. Man wird ihn wohl mit einem Posten als Staatssekretär zufriedenstellen.
Ein dritter Befund betrifft die Klimapolitik, die vorweg von Medien und Grünen als dominantes Wahlthema bewirtschaftet worden war. Noch im Frühjahr erzielten die Grünen bei Meinungsumfragen 30 Prozent, und Annalena Baerbock wurde schon als nächste Kanzlerin hochgejubelt. Nun entschied sich in der Bundestagswahl nur jeder Siebte für die Grünen.
Was sind die Lehren für die SP?
Während Baerbock mit eingeübten, wenig überzeugenden Textbausteinen die Klimakatastrophe beschwor, liess Scholz in seinem plakativen Slogan die existenzielle Grundfrage nicht ausser Acht: «Jetzt sichere Arbeit & Klimaschutz wählen – Scholz packt das an». Die Wählerinnen haben dies besser verstanden.
Mit seinem schlagenden Wahlerfolg hat sich das Team Scholz allerdings für die zukünftige Regierungsbildung auch einige Probleme geschaffen. Von den 206 SPD-Bundestagsabgeordneten sind 49 unter 35-jährig und mithin bei den Juso, was an sich erfreulich ist. Aber dieses starke Gewicht auf Unerfahrenen kann die neue Regierungskoalition auch gefährden. Der Publizist und Träger des vom Bundespräsidenten verliehenen Bundesverdienstkreuzes, Frank A. Meyer, geisselt in der Zeitschrift «Cicero» mit scharfen Worten den «akademischen Elitismus» dieser «wohlhabend-mittelständisch-akademisch-progressiven» Jungpolitiker, welche die Facharbeiter, Handwerker und Aufstiegswilligen in der SP abschrecken würden.
Ich gehe mit Vorsicht und Vorbehalten an die Frage heran, welche Konsequenzen aus diesen deutschen Trends für die SP in der Schweiz abzuleiten wären. Eine Rechtfertigung für das schmalbrüstige Programm der oppositionellen «sozialliberalen Reformplattform» in der SP Schweiz sind diese Wahlen nicht. Die SP Schweiz hat ihre eigenen starken Leuchttürme. Wenn es um die konsequente Verteidigung der Löhne nach dem Scholz’schen Muster geht, würde ich den Waadtländer Pierre-Yves Maillard nennen. Wenn es um die pragmatische Verteidigung der Mieterinteressen geht, kommt mir in der deutschen Schweiz die Zürcherin Jacqueline Badran in den Sinn. Der Deutschschweizer Mieterverband wird heute von grünen Politikern und Politikerinnen angeführt, die die Bewahrung von Mais- und Rapsfeldern wichtiger finden als den zügigen Bau von neuen Wohnungen. Als ehemaliger, langjähriger Mieterpräsident bedaure ich das.
Die jüngsten Ereignisse und Trends in Deutschland, aber ebenso jene in Dänemark und Schweden zeigen es: Die für klinisch tot Erklärten können wieder wach werden. Wenn sie sich verständlich genug den existenziellen Grundbedürfnissen der Bevölkerung zuwenden.
Publiziert: 05.10.2021, 10:43