Kolumne im Tages-Anzeiger – Dienstag, 15. April 2014
Wer in der Schweiz vollzeitlich arbeitet, soll ohne Sozialhilfe leben können: vom Lohn. Das fordert die bürgerlich dominierte Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats. Die GPK hat Anfang des Monats – im Bericht zum Ausländeraufenthalt – vom Bundesrat konkrete Vorschläge für Massnahmen verlangt, «damit mit den erwirtschafteten Löhnen die Lebenshaltungskosten in der Schweiz gedeckt werden können.»
Eine solche Forderung ist ein «Steilpass für die Mindestlohn-Initiative», wie eine Zeitung schrieb. Ein gesetzlicher Mindeststundenlohn von 22 Franken, über den wir im Mai abstimmen, ist zunächst einmal eine Frage des Gewissens, der Gesinnung und des Anstands gegenüber Schwächeren und bei uns arbeitenden Ausländern. Dafür spricht aber auch die wirtschaftliche Vernunft. Erstens: Eine nüchterne Haushaltrechung offenbart bereits, warum ein Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde angezeigt ist. Der resultierende Brutto- Monatslohn von 4000 Franken für eine Vollzeitstelle sieht auf den ersten Blick nach viel aus. Doch wenn die obligatorischen Lohnprozente für die Sozialversicherungen und die pflichtgemässen Steuern abgezogen sind – nach neusten Erhebungen betragen sie je nach Kanton monatlich 1100 bis 1200 Franken – verbleiben weniger als 3000 Franken zum Leben. Und wer eine nur halbwegs anständige Dreizimmer-Wohnung bewohnt, zahlt dafür je nach Wohnort 1200 bis 1500 Franken Miete.
Kein ernstzunehmender Ökonom oder Politiker behauptet, dass man mit dem verbleibenden Monatsgeld von 1500 Franken oder weniger in der teuren Schweiz anständig leben kann. Die Rechnung der Initiativgegner sieht anders aus: Sozialhilfe, KV-Prämienverbilligung und Wohngeldzuschüsse sollen helfen, die Einkommen aufzubessern! Dies hat – auf die prekäre Lohnsituation angesprochen – auch Economiesuisse-Präsident Heinz Karrer gefordert. Die öffentliche Hand soll die Tiefstlöhne also mit Steuergeldern subventionieren nach der zynischen marktwirtschaftlichen Formel: Gewinne privat – die Kosten dem Staat!
Zweitens: Die Initiative ist nicht starr, sie bedroht kein Lehrverhältnis und keine Arbeitsplätze. «Der Bund kann für besondere Arbeitsverhältnisse Ausnahmeregelungen erlassen», heisst es im Initiativtext wörtlich. Das Parlament soll nach der Annahme auf gesetzlicher Ebene festlegen, dass für Lehrlinge, Praktikanten und ehrenamtliche Tätigkeiten keine 22 Franken Stundenlohn gelten. Ich vermute, dass auch Erntehelfer, die kurzzeitig im Thurgau eingesetzt werden, oder Grenzgänger im Mendrisiotto unter die Ausnahmeregelung fallen. Dass die Initianten diese Ausnahmen nicht schon jetzt offen kommunizieren, ist zu bedauern. Pragmatismus und Bescheidenheit statt klassenkämpferischer Parolen würde die Akzeptanz der Initiative sicher erhöhen.
Drittens: Der Mindestlohnansatz ist im Hochpreisland Schweiz gerechtfertigt. Wie das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) die Kaufkraft mit derjenigen von Mindestlöhnen anderer europäischer Länder vergleicht, ist unzulässig. Denn bei uns gehören die Krankenkassen-Kopfprämien zu den Zwangskonsumausgaben, während sie im Ausland durch Steuern finanziert werden. Auch die zwei- bis dreimal höheren Mietkosten in der Schweiz sind nicht berücksichtigt. Der Seco- Lohnvergleich, der jetzt überall zitiert wird, ist eine inkompetente, politische Zahlenspielerei.
Viertens: Jene, die jetzt gross Stimmung gegen Mindestlöhne machen, sind von der Initiative gar nicht betroffen. Die Gegenkampagne wird vom abstimmungserprobten Gewerbeverband, nicht von der führungsschwachen Economiesuisse geleitet. Aber kein Gewerbetreibender in der Schweiz kann es sich mehr leisten, weniger als 22 Franken Stundenlohn zu bezahlen. Und auch keine der 800 Firmen, die die Mindestlohninitiave unter dem Signet «SuccèsSuisse» bekämpfen, beschäftigt Mitarbeiter für weniger. Selbst frühere Tiefstlohnsünder wie Lidl, Aldi, H & M haben sich inzwischen zu 4000 Franken Monatslohn bekannt. Noch vor einem Jahr hatten sie behauptet, ein solcher Mindestlohn bedeute den Ruin.
Da fragt sich, weshalb die Wirtschaftsverbände mit Schützenhilfe liberaler Ökonomen so verbissen gegen einen gesetzlichen Mindestlohn kämpfen – notabene unter Einsatz von Millionen? Es sind rein «ordnungspolitische », also ideologische Gründe: Man will den Einfluss des Staates im Arbeitsmarkt beschränken. Es geht um das ums Dogma des freien Marktes und nicht um die ökonomische Vernunft.
Fünftens schliesslich der wichtigste Punkt: Mit den Tiefstlöhnen werden Krückenbranchen subventioniert und die überfällige Strukturanpassung verhindert. «Wie soll ein Gemüsebauer im Seeland einen Erntehelfer für 4000 Franken anstellen, ohne dass sein Hof eingeht?», fragt die Kampforganisation «SuccèsSuisse» in ihren teuren Inseraten. In Wahrheit geht es im Seeland aber nicht um den Saisongemüse- Bauer, sondern um die agroindustrielle Produktion, bei der in fossil beheizten Treibhäusern und mit subventionierten Tiefstlohnarbeitern aus Portugal und Polen eine ökologisch und ökonomisch unsinnige Hors-Sol- Kultur aufrechterhalten werden soll. Ein Kilo Tomaten, Gurken und Peperoni benötigt in den geheizten Treibhäusern drei- bis viermal mehr fossile Energie als in Südspanien – selbst unter Berücksichtigung des Transportwegs. Ausgerechnet die Neoliberalen, die dem Volk stets Strukturwandel, Produktivitätssteigerung und mehr Effizienz predigen, wollen nun überholte Strukturen mit subventionierten Tiefstlohnbeschäftigten in die Zukuft retten! Dies nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch im Weinbau, der Reinigungsbranche, in Teilen der unter Überkapazitäten leidenden Gastroszene und bei der Tiefstlohnkonkurrenz von Spitex und Pflegeheimen. Dabei behindern gerade die Tiefstlöhne den Strukturwandel in Branchen, die nur dank Subventionen überleben.
Der gesetzliche Mindestlohn wird bei uns keine Arbeitslosen schaffen, wie dies jetzt behauptet wird. Aber er wird verhindern, dass ständig ungelernte Tiefstlohnarbeiter in den Problemregionen Europas rekrutiert werden für die strukturschwachen Krückenbranchen in der Schweiz. Der Mindestlohn ist nicht nur eine Frage des Gewissens, sondern auch ein Gebot der ökonomischen Vernunft.
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