Interview von Marcel Odermatt mit Rudolf Strahm, Weltwoche 21. 9. 2023 S.28-29 ............................................................................................................................................................................................................................................,
Der Fachkräftemangel ist hausgemacht. Schweizer Unternehmen können zu einfach aus dem Ausland rekrutieren, anstatt Fachkräfte im Inland auszubilden und weiter zu qualifizieren.
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Weltwoche: Herr Strahm, Wirtschaft und Politik beklagen sich ständig über den wachsenden Fachkräftemangel. Er wird als Rechtfertigung für die immer grössere Zuwanderung benützt. Haben diese Kreise Recht?
Nein, die Realität sieht anders aus: Die Schweizer Wirtschaft hat nicht einen generellen Akademikermangel. Wir haben aber einen ausgeprägten Mangel an Fachkräften in MINT-Berufen, das heisst Uni- und Fachhochschul-Absolventen der Grundlagenfächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Einen weiteren Fachkräftemangel gibt es bei Ärzten und Medizinberufen wie Pflegefachpersonen. Statistisch am häufigsten fehlen aber jene Fachkräfte und mittleren Kader, die zunächst eine Berufslehre und später berufsbegleitend eine höhere Berufsbildung absolviert haben.
Weltwoche: Dann ist der Fachkräftemangel hausgemacht?
Ja, das ist er: Der Ärztemangel ist selbstverursacht durch den Numerus Clausus beim Medizinstudium. Mit der Maturitätsordnung 1995 wurden die Sprachfächer aufgewertet und im Notenmix stärker gewichtet als die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer. Junge Männer mit guten mathematischen Grundkompetenzen schaffen oft den Zugang ins Gymnasium nicht, wenn sie Probleme mit den Fremdsprachen haben. 30 Prozent der heute 16-Jährigen haben einen Migrationshintergrund. Sie haben bei diesen Fächern einen automatischen Nachteil. Ihr Potenzial wird oft vergeudet. Der Fächermix und die Fächergewichtung im Gymnasium wirken sich auf die spätere Studienwahl aus und verschärfen den Fachkräftemangel. Wir haben dies in unserem neuen Buch „Karriere mit Berufsbildung“ deutlich belegt.
Weltwoche: Trotzdem wollen viele Eltern um jeden Preis dafür sorgen, dass ihre Kinder ans Gymnasium gehen
Es hat sich ein eigentlicher standespolitischer Kulturkampf der akademischen Elite entwickelt. Die Weichenstellung «Gymnasium oder Berufslehre» wird geographisch durch den Stadt-Land-Graben und den sozialen Status der Eltern bestimmt. In ländlichen Gegenden werden Berufslehre und Gymnasium gleichwertig eingeschätzt. Heute machen im Kanton Genf dreimal so viele Jugendliche eine gymnasiale Maturität wie im Kanton Glarus. Es wird niemand behaupten, am Genfersee sei man zwei- oder dreimal intelligenter als in der Zentral- und Ostschweiz. Der aktuelle Hotspot der bildungspolitischen Kampfsituation ist der Kanton Zürich. Gut betuchte Eltern schicken ihre Söhne oder Töchter zu Prüfungsvorbereitung in Privatstunden, in denen sie auf Gymnasiums-Zugangsprüfung getrimmt werden. Das Motto «Mehr Finanzen – mehr Bildungserfolg» macht die Bildungsselektion zu einer sozialen Klassenfrage.
Weltwoche: Ausländische Eltern kennen das Berufssystem nicht.
Das ist tatsächlich ein Problem. Ausländische Eltern und Expats, die das schweizerische durchlässige Bildungssystem nicht kennen, drängen auf mehr Gymnasiumsplätze. Die Folgen sieht man in Zürich. Rund um den Zürichsee werden aufgrund dieses Drucks neue Kantonsschulen errichtet.
Weltwoche: Sind wir im Begriff, das duale Bildungssystem kaputtzumachen?
Überall, wo die Berufslehre stark zurückgedrängt wird, gerät sie in ein soziales Stigma. Sie gilt dann als Bildungsgang für Schwächere, für Zurückgebliebene, für die Unterschichtenjugend. Hier muss man dagegenhalten. Vor allem die KMU-Wirtschaft müsste dabei mithelfen.
Weltwoche: Aber wie?
Es braucht mehr Aufklärung über den heutigen Arbeitsmarktbedarf. Heute sind die begehrtesten Fachkräfte im Arbeitsmarkt jene Leute, die eine Berufslehre und später in ihrer Berufskarriere einen zertifizierten eidgenössischen Berufsabschluss mit einer Höheren Fachschule oder einer eidgenössischen Berufsprüfung oder höheren Fachprüfung (Meisterprüfung) absolviert haben. Auch Fachhochschulabgänger, die in der Regel vorgängig eine Berufslehre abgeschlossen hatten, sind nach dem Studienabschluss rascher im Arbeitsmarkt als Uni-Abgänger. In diesem Sinne hat der Arbeitsmarkt in aller Stille gekehrt.
Weltwoche: Lehrlinge arbeiten länger als Studierende und verdienen weniger.
Ja, ihre Lebensarbeitszeit ist meistens länger. Die Löhne haben sich jedoch angeglichen. Gerade Fachhochschul-Absolventen mit Bachelorabschluss können nach dem Studium häufiger und schneller in Führungspositionen avancieren als Universitätsabsolventen mit Masterabschluss. Dies belegt die BFS-Hochschulabsolventenbefragung.
Weltwoche: Viele Universitätsabsolventen finden zudem nie eine Tätigkeit, die ihrer Ausbildung entspricht.
Das ist ein grosses Problem und erklärt auch teilweise den Fachkräftemangel. An den Schweizer Universitäten studierten 2021/2022 über 13000 Studierende im Hauptfach Psychologie, davon 79 Prozent Frauen. Weiter studierten über 3400 im Hauptfach Geschichte und Kunstgeschichte, über 4000 in Politikwissenschaften und 7000 in den Hochschulen der Künste. Das sind alles interessante Fächer. Aber es können nie alle nach Studienabschluss in ihrem erlernten Beruf eine gewünschte adäquate Stelle finden. Nicht wenige verbleiben im Prekariat. Dahinter steht auch eine Tragik. – Insgesamt waren 47‘000 Studierende in den Geistes- und Sozialwissenschaften eingetragen – aber nur 33‘000 in den exakten und Naturwissenschaften und 21‘000 in technischen Wissenschaften. Vom Bedarf auf dem Arbeitsmarkt müsste es genau umgekehrt sein. Nochmals: Ein Hauptgrund für diese Fehlentwicklung ist die sprachlastige Selektion an den Gymnasien und Kantonsschulen.
Weltwoche: Sie haben Jahrgang 1943, sind damit fast noch ein Babyboomer. Diese Generation geht aktuell in grosser Zahl in Pension. Braucht die Schweiz in den nächsten Jahren mehr Migration als heute?
Es ist ein Irrweg zu denken, wir könnten unsere Probleme mit noch mehr Zuwanderung lösen. Wir hatten in den letzten Jahren wahnsinnig viele Menschen, die in die Schweiz kamen. Trotzdem haben wir grosse Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt und einen riesigen zusätzlichen Fachkräftemangel. Denn: Zuwanderung erzeugt noch mehr Zuwanderungsbedarf! Wir können nicht steuern, wer aus der EU in die Schweiz einwandert. Die Hälfte ist gut qualifiziert, aber die andere Hälfte ist nicht oder ungenügend ausgebildet. Diese haben entsprechend eine tiefe Produktivität und verursachen hohe Sozialkosten. Sie arbeiten in der Gastroszene, in Dienstbotenjobs, als Haushalthilfen oder im Tourismus – also Branchen mit tiefster Wertschöpfung. Das ist kein nachhaltiges Wachstumsmodell.
Weltwoche: Was wäre dann Ihr Vorschlag?
Wir müssen unsere Hausaufgaben in der Schweiz machen. Ich denke, dass die Erhöhung der Geburtenrate und die Frühförderung etwas hergibt. Das bedingt aber mehr Tagesstrukturen und eine erweiterte und intensivere Kinderbetreuung! Das Erwerbspotential bei gut ausgebildeten Frauen ist noch nicht ausgeschöpft.
Weltwoche: Sie haben selbst zu zwei Enkelkindern geschaut.
(lacht) Ja, ich weiss aus eigener Erfahrung, was nötig ist. Tagesstrukturen und Kindertagesstätten sollten erweitert und von der Öffentlichkeit finanziert werden. Der Freisinn hatte im vorletzten Jahrhundert die unentgeltliche staatliche Schule geschaffen. Konsequenterweise müsste man auch die Vorstufe öffentlich finanzieren. Das läge sehr im Interesse des Arbeitsmarkts.
Weltwoche: Linke sagen, die Schweizer Tiefsteuerpolitik sei ein zentraler Grund, weshalb immer mehr Leute hierherkommen. Teilen Sie diese Analyse?
Ja, das ist richtig – aber nur zu 50 Prozent. Die andere Seite der Ursache sind die institutionellen Rahmendbedingungen der Personenfreizügigkeit: Jeder Unternehmer, ob Bauer, Beizer oder Zuhälter, kann im Ausland tiefqualifizierte Arbeitskräfte ohne Bewilligung rekrutieren. Diese Rahmenbedingung ist strukturell der Pullfaktor für die hohe Zuwanderung. – Und noch wichtiger ist dies: Die freie Rekrutierung von Pflegepersonal, Ärzten und Informatikern im Ausland hat jahrelang dazu geführt, dass man zu wenige im Inland ausgebildet und sogar Bildungswillige abgewiesen hat. Die leichte Personal-Rekrutierung im Ausland hat in vielen Bereichen die interne Fachkräfte-Ausbildung vernachlässigen lassen! Ich verfolge diese Unterlassung seit langem und habe auch früh darüber geschrieben.
Weltwoche: Sollte man Personenfreizügigkeit aufkündigen?
Zentral ist, dass der Lohnschutz nicht aufgeweicht wird. Der Lohnschutz hat für die SP die gleiche Bedeutung wie für die SPD seinerzeit Hartz IV. Die deutschen Sozialdemokraten hatten wegen Hartz IV bei der Hälfte der Arbeitnehmerschaft ihre Glaubwürdigkeit verloren. Das Gleiche droht uns, wenn wir beim Lohnschutz Konzessionen machen.
Weltwoche: Die Linke wird obsolet, wenn sie sich nicht mehr für die Löhne starkmacht.
Ja genau, dann hat die SP ein Problem.
Weltwoche: Wäre nicht das Einfachste, das Rentenalter zu erhöhen, um den Personalmangel zu beheben?
Das können Sie vergessen! In unserer plebiszitären Demokratie ist es nicht möglich, das Referenz-Rentenalter anzuheben. Das wäre in Deutschland, England oder Frankreich genau gleich. Die generelle Erfahrung und Überzeugung der Arbeitnehmer ist, dass Menschen über 50 oder 55 Probleme haben, eine feste Anstellung zu finden. Entsprechende Initiativen wie aktuell jene von den Jungfreisinnigen sind chancenlos.
Buchhinweis:
Ea Eller, Rudolf H.Strahm, Jörg Wombacher: „Karriere mit Berufsbildung. Warum der Arbeitsmarkt Fachkräfte mit Berufslehre am meisten begehrt“ hep Verlag 2023, 203 Seiten, 29.-Fr- eBook 21.-Fr