99%-Initiative: Ein bisschen Steuerprogression ist erträglich

Die 99%-Initiative wird dramatisiert: Die Vermögensverteilung in der Schweiz ist in Schieflage geraten. Die Initiative würde dies sanft korrigieren.

Kolumne von Rudolf Strahm

(in TA-Media, TA-Online, Tages-Anzeiger, Der Bund vom 7. 9. 2021)

Zwei Feststellungen erstaunen bei der «99%-Initiative», über die wir bald abstimmen. Zum einen zeigte sich vor Beginn der Kampagne eine hohe Zustimmung bei der ersten repräsentativen Publikumsumfrage der SRG. Und zum andern überrollt uns eine Propagandawalze von Economiesuisse, Gewerbeverband, Avenir Suisse gegen die letztlich wohl chancenlose Volksinitiative. Eine massive Abfuhr der Initiative soll den Boden für nachfolgende Steuersenkungen ebnen.

Dieser Overkill weist auf die Angst hin, die viele sehr Wohlhabende und die Verbandsfunktionäre angesichts des Unbehagens über die wachsende Vermögenskluft im Lande insgeheim umtreibt.

Steuervorlagen haben es in Volksabstimmungen immer schwer. Erfahrungsgemäss zählt weniger die rechnerische Argumentation, als vielmehr das Vertrauen, wem man zu glauben bereit ist.

Einen Vertrauensmangel haben sich die Juso selbst zuzuschreiben. Anfänglich, bei der Lancierung, lobten sie ihre Initiative als Mittel des Klassenkampfes zur Überwindung des Kapitalismus. Ich denke, soziale Gerechtigkeit und Steuerfairness wären auch ohne das rhetorische Arsenal aus dem unverstandenen Vulgärmarxismus glaubwürdig zu vermitteln.

Die 99%-Prozent-Initiative ist keine Enteignungs-Steuerkeule, die «den Mittelstand aussaugt» und die «besten Milchkühe zu Tode melkt», wie etwa die SVP ihre Nein-Kampagne mit einem Zeckenbild begründet. Die Initiative will bloss höhere private Sondereinkommen aus Kapitalerträgen wie Dividenden, Zinsen und Kapitalgewinnen aus grösseren Wertpapier- und Immobilienbeständen mit einer Art Steuerprogression belegen. Immerhin fordert unsere Bundesverfassung, den «Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu beachten».

Die von der Initiative vorgeschlagene Progression auf den Sondereinkommen der Kapitalerträge ist im Vergleich zum Ausland geradezu niedlich: Selbst wenn die 99%-Initiative in Bund und Kantonen angenommen und umgesetzt würde, wäre die Steuerbelastung der hohen Einkommen immer noch tiefer als in Deutschland, Frankreich, Österreich und in den USA!

Viele verschweigen, dass der vorgesehene Zuschlag auf den Kapitalerträgen nur für die Direkte Bundessteuer direkt anwendbar ist. Wegen dem verfassungsmässigen Verbot der materiellen (zahlenmässigen) Steuerharmonisierung, müsste die Initiative in jedem Kanton einzeln beschlossen und konkretisiert werden. Mit dem Grenzsteuersatz von maximal bloss 13% hält sich die Zusatzbelastung bei der Bundessteuer in Grenzen.

In dem allen Stimmberechtigten zugestellten «Bundesbüchlein» mit den Erläuterungen wird auf Seite 13 ein Beispiel vorgerechnet: Ein Wohlhabender, der neben seinem steuerbaren Arbeitseinkommen von 150’000 Franken zusätzlich noch 150’000 Franken Kapitalertrag erzielt, müsste mit der Initiative dann neu 175’000 Franken versteuern (100’000 Franken Kapitalertrag sollen gemäss Initianten nicht höher besteuert werden, der überschiessende betragfach).

Die Erläuterungen verschweigen in diesem Rechenbeispiel die Zusatzsteuer. Diese würde für einen Verheirateten bei der Direkten Bundessteuer nur gerade um 3‘425 Franken auf das neue Niveau von 18‘925 Franken angehoben. Dies bei einem steuerbaren Einkommen von 325‘000 Franken. Von einer «Jagd auf das Geld der Reichen» und von einer «Zerstörung des Innovationsstandorts» zu sprechen, ist Nonsens. Auffallend ist, dass Economiesuisse jetzt die KMU als Opfer vorschiebt, weil die Konzerne nach Meinungsumfragen absolut keinen Goodwill geniessen.

Die Bürgerinnen und Bürger sollen die Tragbarkeit dieser Zusatzbelastung selber ermessen. Aber sie sollten auch die folgenden Rahmenbedingungen in Betracht ziehen:

– Erstens werden heute die Arbeitseinkommen faktisch höher besteuert, weil sie zusätzlich mit den AHV-, IV- und AlV-Beiträgen belastet werden, während die Kapitalerträge befreit sind.

– Zweitens kennt die Schweiz praktisch als einziges OECD-Land keine Kapitalgewinnsteuer auf Aktienwerten.

– Drittens haben die meisten Kantone die Erbschaftssteuer für direkte Nachkommen abgeschafft. Nach Berechnungen von Professor Marius Brülhart von der Universität Lausanne, werden pro Jahr in der Schweiz rund 95 Milliarden Franken vererbt. 75% aller Vermögen der 300 Reichsten im Land sind nicht selber erschaffen, sondern geerbt worden!

Die Disparitäten in der Vermögensverteilung haben in den letzten 20 Jahren extrem zugenommen. Diese Schieflage bei den Vermögen macht vielen verantwortungsbewussten Bürgerinnen und Bürgern und selbst unabhängigen Liberalen und Mittelstandsbürgern zunehmend Sorge. Doch die Rechtsbürgerlichen wollen weitere Steuergeschenke zugunsten der grossen Vermögen: Abschaffung der Stempelabgabe zugunsten der Aktienbesitzer und Konzerne, Abschaffung der Verrechnungssteuer, die die Hinterziehung begrenzt.

Bei dieser Abstimmungsvorlage sollte es nicht um Sympathie oder Aversion für oder gegen die Initianten gehen. Es geht vielmehr um die Frage, wie gerecht dieser Staat mit seinen wachsenden Aufgaben finanziert werden soll.

Ende der Kolumne