Wer Frontex ablehnt, überlässt die Migration den Schleppern und Banden

Kolumne von Rudolf Strahm

In TA-Online , Tages-Anzeiger, Der Bund  22. 02. 2022

Soll die Schweiz mehr Geld an die Grenzschutzorganisation der EU bezahlen? Die Frage sollte ohne moralisches Getöse mit dem Blick auf einige unbequeme Realitäten beantwortet werden.

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Dieses Frontex-Referendum wollte eigentlich niemand. Es richtet sich gegen eine finanzielle Aufstockung des Beitrags an die Grenzschutzorganisation der EU. Die Parteileitung der SP beteiligte sich nicht an der Unterschriftensammlung und hoffte, es werde keine Volksabstimmung stattfinden. Auch die Flüchtlingshilfe und andere Asylorganisationen blieben auf Distanz.

Doch eine Gruppierung von Asylaktivisten brachte mithilfe der Adressagentur Wecollect die nötigen Unterschriften in letzter Minute noch zusammen. Wecollect verfügt über 80’000 Adressensätze von Stimmbürgern, unklar, woher sie stammen.

In der SP haben sich die Flüchtlingsaktivisten jetzt doch noch für eine Nein-Parole gegen die Beitragserhöhung für Frontex durchgesetzt, und die Partei ist damit erneut in der Geiselhaft einer Fundi-Gruppe. Dadurch wird in der Volksabstimmung vom Mai ein bizarrer Frontenwechsel stattfinden: Die SP als Pro-EU-Partei wird Frontex als das Kernstück des Schengen-Abkommens bekämpfen und ihre Anhängerschaft ins Dilemma stürzen. Und die SVP, die 2005 das Schengen-Abkommen bekämpft hatte, kann wohl jetzt nicht den Grenzschutz im Mittelmeer bekämpfen, zumal ihr Bundesrat Ueli Maurer als Verantwortlicher für das Zollwesen für Frontex zuständig ist.

Immerhin ist Frontex eine staatliche Polizeiinstitution, mit Fehlern und Überreaktionen zwar, aber kontrollierbar und der Geschäftsprüfung des Europaparlaments unterstellt. Wer Frontex ablehnt, überlässt die Migration den Schleppern und Banden. Armutsmigration ist eine globale Tragik. Sie erfordert Empathie, aber auch klare Kontrollen. Deshalb ist Frontex unverzichtbar!

Die Asylaktivisten von der No-Border-Bewegung wollen keine Grenzkontrollen. Für sie gilt ihr selbstdefiniertes «Menschenrecht» – dass sich jeder Erdenbürger dort niederlassen kann, wo er will.

Diese gut gemeinte Mitleidsmoral muss mit den Realitäten konfrontiert werden. Bevor das moralische Getöse des Abstimmungskampfs beginnt, wage ich trotz absehbarer Kritik, einige unbequeme Realitäten zur Diskussion zu stellen und die Verantwortungsethik herauszufordern.

Zusammenarbeit der «Retter» und Schlepper

Das Abholen von Armutsflüchtlingen auf dem Mittelmeer ist heute auch ein Businessmodell ausländischer NGOs. Die «Seenotretter» lassen sich als Helden feiern und generieren unglaubliche Summen an Spendengeldern. Wie Kurt Pelda, der weit gereiste Dritte-Welt-Spezialist, in der «SonntagsZeitung» (2. 1. 2022) gezeigt hat, ist die Zusammenarbeit zwischen den «Rettern» und den Schleuserbanden in allen Mittelmeergegenden eingespielt. Die Staatsanwaltschaft in Sizilien hat durch Funkabhörungen und Fotos Hunderte solcher Schlepperkooperationen dokumentiert.

Doch jede organisierte Abholaktion im Meer ist ein neuer Pull-Faktor, das heisst, sie ruft nach noch mehr irregulären Armutsmigranten aus Afrika und dem Maghreb, wo jeder zweite junge Mann von einer Flucht nach Europa träumt. Dabei sind es nicht die Bedrohten, sondern meist die starken, jungen Männer, die das ausnützen.

Parallelgesellschaften und berufliche Integration von Migranten

Kann die multikulturelle Gesellschaft mit freier Migration wirklich ein sozialer Menschheitstraum sein? Die Realität in Europa zeigt Parallelgesellschaften von Migranten in grossstädtischen Quartieren und Banlieues, in Ausländerquartieren, in denen selbst die Polizei machtlos ist.

Die Schweiz ist besser dran. Aber auch bei uns sind gemäss SEM von den Asylpersonen 83 Prozent Sozialhilfebeziehende. Auch nach fünf Jahren Aufenthalt in der Schweiz gehen nur ein Drittel einem Erwerb nach, wobei «Erwerb» in der Statistik schon nur eine Wochenstunde bezahlter Arbeit bedeutet.

Man überlässt Schulen sich selber, in denen 22 von 25 Schulkindern einer Klasse von der Herkunft her fremdsprachig sind. Die Politik blendet aus, dass gemäss BFS-Statistik ein Drittel der Schulabgänger mit 16 einen Migrationshintergrund aufweisen – und dass derzeit die Hälfte der Neugeborenen in der Schweiz eine Mutter mit Migrationshintergrund haben. Die Lasten dieser tiefgreifenden demografischen Veränderungen werden generös der Lehrerschaft überlassen.

Die Arbeitsintegration ist in der Schweiz dank der Berufslehre und der Asyl-Vorlehre besser als anderswo. Ich befasse mich seit Jahren mit dieser Herausforderung. Was ich hier erzähle, ist eben auch symptomatisch:

Ein Malermeister übernimmt mit bestem Willen einen männlichen Flüchtling aus Afrika als Praktikanten zum Test für eine Inegrations-Vorlehre. Die Maler versammeln sich morgens vor sieben Uhr, beladen den Lieferwagen, und um Punkt sieben Uhr fahren sie zur Baustelle. Der Mann aus Afrika kommt jeden Morgen verspätet, die Arbeiter warten gereizt im Lieferwagen und geben sich dennoch Mühe. Nach vier Tagen wird der Mann entlassen – es gehe so nicht, begründet der Chef. Die Sozialarbeiterin im Flüchtlingszentrum reagiert dann wie folgt: «Das ist struktureller Rassismus!» Solche Situationen sind symptomatisch und nicht sehr hoffnungsvoll.

Sexismus

Die Einwanderung aus Mittelost, aus dem Maghreb, aus Afrika, aus Pakistan (die Afghanen kommen von dort) ist eine Einwanderung aus Machokulturen. Der Feministin Alice Schwarzer, die das erstmals laut thematisiert hatte, wurde Rassismus vorgeworfen. Die Gender- und Anti-Rassismus-Aktivistinnen blenden das aus. Ich habe keine Antwort darauf, aber man muss wissen: Die Machokultur ist persistent, zählebig, und sie überdauert auch bei uns mehr als eine Generation.

Flüchtlingskonvention ergänzen

Das Flüchtlingsrecht wird heute systematisch von allen Staaten unterlaufen, missachtet oder gar willentlich verletzt. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ist geprägt von den Erfahrungen des Holocaust des Zweiten Weltkriegs. Wer ergänzt (nicht: ersetzt) die Flüchtlingskonvention? Die Schweiz ist Depositarstaat der Genfer Konvention. Sie hätte das Recht und die Aufgabe, realitätsbezogene Ergänzungen, Zusatzkonventionen, zu initiieren. Doch diese Verantwortung übernimmt niemand.

Max Weber hat vor hundert Jahren die Gesinnungsethik, etwa die Mitleidsmoral, klar von der Verantwortungsethik unterschieden. Verantwortungsethik heisst: langfristiges Denken, Mitverantwortung für die Gesellschaft der Zukunft übernehmen, auch die unvermeidlichen gesellschaftlichen Spaltungen und Brüche bedenken. Die No-Border-Bewegten ignorieren das. Doch jeder erfahrene Mensch weiss: Gute Gesinnung, Mitleidsethik, ist in der Sozialpolitik kein guter Berater und keine nachhaltige Hilfe, sondern meist ein falscher Verführer.

Eine leicht gekürzte Fassung dieser Online-Kolumne erschien als  Printfassungen von Tages-Anzeiger und Der Bund  vom 22. 02. 2022

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Nachtrag des Autors zu den Datenquellen:

Die Zahl, wonach derzeit die Hälfte aller Neugeborenen in der Schweiz eine Mutter mit Migrationshintergrund haben (und i.d.R. nicht Deutsch als Muttersprache erlernen), hatte zu Rückfragen seitens von Redaktionen nach der Datenquelle geführt.  – Aus Platzgründen kann ich in der Printfassung keine Quellendetails nennen. Hier aber kann ich die Datenquelle benennen.

Der Begriff „Migrationshintergrund“ umfasst nicht nur die ausländische Staatsangehörigkeit (sog. „Pass-Ausländerin“), sondern auch Eingebürgerte, z.B. Einverheiratete,  mit jüngerer ausländischer Herkunft. Dies ist für die Einschätzung Integrationsaufgaben  in Kitas, Kindergärten, Grundschulen, Deutsch-Nachholbildung, Schulpsychologie, Schulsozialarbeit usw. der Kantone und Gemeinden relevant.

Die Quelle dieser Angabe basiert auf dem Jahr 2015 und ist publiziert im Dokument: TK-Integrationsdialog 2012-2017, vom 3. November 2017, Tripartite Konferenz (Konferenz der Kantonsregierungen KdK und Städteverband) . Seite 22: „In der Altersklasse der 0-bis 6-Jährigen lebt über die Hälfte der Kinder in einem Haushalt mit Migrationshintergrund“.

Wenn man nur die (ausländische) Staatsangehörigkeit berücksichtigt, hatten im Jahr 2020 von den 85‘914 in der Schweiz Neugeborenen 33`936 Kleinkindern eine ausländische Mutter (ausländische Staatsangehörigkeit, Quelle: BFS-). Das waren rund 40% der Neugeborenen mit einer ausländischen Mutter. Wenn die eingebürgerten, einverheirateten Mütter hinzugezählt werden, ist die Angabe von „der Hälfte“ plausibel.   R.S: