Warum diktiert Blocher allen die politische Agenda?

Kolumne im Tages-Anzeiger – Dienstag, 27. Mai 2014 9

Es wäre eine Überraschung gewesen, wenn sich Christoph Blocher still und leise aus dem Nationalrat verabschiedet hätte. Es passt zu seinem Stil und seiner Biografie, dem Parlament, das ihn als Bundesrat im Dezember 2007 abgewählt hat, noch eine Stinkbombe in den Saal zu werfen: Die Parlamentarier seien geldgierig, zögen Sachgeschäfte unnötig in die Länge, im Bundeshaus politisieren zu wollen, sei darum verschwendete Zeit. Es passt zu seinem Kampfstil, gleich eine neue Front gegen die EU zu eröffnen, mit einem persönlichen Einsatz von fünf Millionen. Damit wird er weiterhin die politische Agenda der Schweiz bestimmen.

Als ob er die Eröffnung einer neuen Front vorausgeahnt hätte, bringt der 88-jährige Helmut Hubacher, eine prägende Figur der schweizerischen Sozialdemokratie, heute Dienstag ein Buch mit dem Titel «Hubachers Blocher» heraus. Seine Auseinandersetzung mit dem langjährigen politischen Gegenspieler ist mehr als eine Abrechnung. Es ist ein Geschichtsbuch mit Anekdoten, Episoden und Konflikten. Man liest über heute vergessene Auseinandersetzungen, über Blochers Kampf gegen das moderne Eherecht – mit dem alten konnte bis 1986 die Ehefrau nicht einmal ihr Vermögen selber verwalten –, seinen Kampf gegen die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (Neat), gegen die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit und für die Privatisierung der Suva und der SRG.

Hubacher beschreibt den «Mister Gnadenlos » der SVP, seinen Machtanspruch und seine Charakterschwächen, so wie er sie in zwanzigjähriger Auseinandersetzung kennen gelernt hat. Aber grossmütig zollt er seinem Gegner auch Respekt für seine politische Kraft, seine taktische Intelligenz und seine Fähigkeit zur Themenführerschaft.

Hubacher hat die letzten Kapitel des Buches nach dem 9. Februar umgeschrieben. Blochers Abstimmungssieg mit der Masseneinwanderungsinitiative machte den weisen Alten nachdenklich. Die Linken seien im «Anti-Blocher- Reflex» stecken geblieben, stellt er fest: «Weil ich diesen Politstil persönlich viele Jahre mitgetragen habe, beschäftigt mich, je älter ich werde, dieser Anti-Blocher-Reflex desto mehr. Der uns blockiert, unabhängig von der Angstschuld zu entscheiden, statt behutsame Einwände zuzulassen und Fragezeichen gleich als Verrat am Sozialismus auszulegen. Ich befürchte, so können wir gegen Blocher nicht gewinnen.»

Hubacher regt zu einem Umdenken an: «Es ist kein schmerzhafter Denkprozess, zugeben zu müssen, Blocher habe nicht alles falsch gemacht. Bei der Zuwanderung haben wir nämlich ein Problem, und was für eines. (. . .) Es hilft nichts, à la Vogel Strauss den Kopf in den Sand zu stecken.»

Seit zwanzig Jahren diktiert Christoph Blocher die politische Agenda unseres Landes. Beinahe jeder Journalist sucht sich in seinem Glanz zu sonnen, indem er ein Zitat oder ein Interview von ihm ergattert. Und nicht wenige in der Intellektuellenszene definieren sich nur noch als Korrekturbeamte an Blochers nationalistischem Gedankengut.

Ich habe mit Christoph Blocher zwölf Jahre in der Wirtschaftskommission gesessen. Nach so langer Zeit der Auseinandersetzung kennt man einander wie in einer Schulklasse. Meine Bilanz ist diese: Zu mindestens 50 Prozent haben sich die Linken und die Bürgerlich-Liberalen den blocherschen Machtzuwachs selber zuzuschreiben! Weil sie vorhandene Probleme des Landes immer so lange verdrängten, bis es nicht mehr anders ging und Blocher das Terrain schon besetzt hatte. Wer das Feld als Erster besetzt, behält quasi das Monopol, auch wenn andere hinterhereilen.

Wie haben alle die Messerstecherinserate der Zürcher SVP zu Beginn der Neunzigerjahre verabscheut! Die Ermordung einer jungen Frau durch einen Straftäter im Hafturlaub wurde da politisch ausgenützt. Wir verdrängten aus politischer Korrektheit, dass sich damals viele städtische Frauen längst betroffen und nachts im öffentlichen Raum nicht mehr sicher fühlten.

Alle haben Ende der Neunzigerjahre auf Blochers Kampagne gegen angebliche «Sozialschmarotzer» in der IV hastig mit Abwehr reagiert. Dass ältere und schwächere Mitarbeiter von den Unternehmen in die Sozialhilfe und die IV ausgegliedert wurden, wollte man lange nicht wahrhaben.

Einen ähnlichen Verdrängungsmechanismus gab es in Sachen Kriminalität, Personenfreizügigkeit und Asyl. Und unlängst hat Blochers Partei als erste offen ausgesprochen – inzwischen durch Erhebungen belegt, aber von der Elite verdrängt –, dass Arbeitnehmende über 50 aufgrund der Personenfreizügigkeit rascher aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden. Auch dieses Thema wird uns verfolgen.

Seit den Neunzigerjahren haben Sozialdemokraten ihr Selbstverständnis in vielen Themenbereichen auf die mathematische Formel reduziert: links das Gegenteil von Blocher. Helmut Hubacher war der letzte SP-Parteipräsident, der nicht einfach nach dem Schema politisierte: «Auf deinen Gegner kannst du dich verlassen.» Aversion gegen die SVP ist berechtigt, aber eine schlechte Beraterin.

Ständige Abnützungskämpfe gegen die Konservativen haben die Linke zur Gefangenen ihrer Anti-Blocher-Reflexe gemacht. Der Historiker Peter Hablützel konstatiert: «Die Linke ist zum Anhängsel der neoliberalen Europamodernisten geworden.»

Nicht genug, Blocher spaltete auch das bürgerliche Lager und zertrümmerte den Freisinn, der lange fleissig den Anti-Etatismus Blochers kopierte und damit einen Grossteil seiner Stammwählerschaft, das liberale Bildungsbürgertum, heimatlos machte. Mit konservativen Werten hat die SVP in den CVP-Stammlanden die Meinungsführerschaft erobert.

Ich bin schon lange der Meinung, man müsse die SVP wieder voll in den Bundesrat einbinden und mitverantwortlich machen. Das war der Schweizer Weg bei der Integration der katholisch-konservativen Opposition nach 1890, der Bauern nach 1918 und der Sozialdemokratie in den 40er-Jahren. Christoph Blocher persönlich passt zwar aus charakterlichen Gründen nicht in eine Kollegialbehörde. Aber eine Einbindung des nationalkonservativen Lagers entsprechend seiner Stärke würde die Linke und die Bürgerlich-Liberalen von ihrer Verkrampfung befreien: Sie könnten dann ohne Anti-Blocher-Starre wieder selber Themen setzen.

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