Hebelt die EU die duale Berufsbildung aus?

Kolumne von Rudolf Strahm in der Schweizerischen Gewerbezeitung SGZ vom 9. Mai 2014.

 

Beim deutschen Gewerbe ist Feuer im Dach. Es sieht seine  qualitativ hochstehende duale Berufsbildung durch Brüssel bedroht. Die EU will einen nivellierten „Europäischen Berufsausweis“ schaffen und mit diesem allen Angehörigen aller  EU-Länder den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erzwingen.

 

„Brüssel knöpft sich den Meisterbrief vor“, titelte die vom Deutschen Bundestag herausgegebene Wochenzeitung „Das Parlament“ in ihrer Ausgabe vom 7. April 2014. „Die duale Berufsbildung ist in Gefahr“, schreibt im Hamburger Abendblatt der ordoliberale Wirtschaftsprofessor Lüder Gerken , der dem integrationsfreundlichen Centrum für Europäische Politik in Freiburg im Breisgau vorsteht. Deutsche Gewerbeverbände markieren Widerstand und Kritik gegen eine, wie sie befürchten, EU-Gleichmacherei von handwerklich-industriellen Berufen und eine Nivellierung nach unten.

 

Nivellierung der Berufsqualifikationen

Warum diese Alarmstimmung in der Berufsbildungsszene? – Das Europäische Parlament hatte auf Antrag der EU-Kommission mit der Richtlinie 2013/55/EU eine Verschärfung und Verstärkung der früheren Richtlinie 2005/36/EG „über die Ankerkennung von Berufsqualifikationen“ sowie eine Konkretisierung des berufsbezogenen Binnenmarkt-Informationssystems (IMI-Verordnung) beschlossen. Mit dieser Angleichung der Berufsqualifikationen wollte die EU-Kommission das Heft in die Hand nehmen, nachdem sich der „Kopenhagen-Prozess“ ergebnislos totgelaufen hatte. In dieser Verhandlungsrunde, im Jahre 2002 in Kopenhagen gestartet, war versucht worden, für die Berufsbildung einen gemeinsamen europäischen Standard festzulegen, ähnlich wie er vorher im Bologna-Prozess für die Hochschulen durchgesetzt worden war. Die Schweiz war an diesen Verhandlungen durch das BBT mitbeteiligt. Doch „Kopenhagen“ wurde von Anfang an durch jene Länder beargwöhnt und blockiert, die wie England keine Berufslehre kennen.

 

Die erwähnte Richtlinie über die Berufsqualifikationen setzt bei der Personenfreizügigkeit an. Sie will den „Anerkennungsmechanismus der Berufe aufgrund der allgemeinen Regelung anwenden“, wie es heisst. Dazu dient einerseits die Überstülpung des europäischen Qualifikationsrahmens (EQR) über die Bildungssysteme aller Länder. Und anderseits soll bei den reglementierten Berufen ein „System der automatischen Anerkennung“ eingeführt werden. Wenn ein Beruf in einem Drittel der EU-Länder in irgend einer Weise einer Anerkennung bedarf, gilt er als „reglementierter Beruf“ und soll der Vereinheitlichung Brüssels unterstellt werden.

 

Die EU will selber einen „Europäischen Berufsausweis“ schaffen, der von den Mitgliedstaaten ausgestellt werden kann, dessen Niveau und Anforderungen aber von der Europäischen Kommission festgelegt werden. Die Ausstellung des Europäischen Berufsausweises soll auch per Internet erfolgen, und dieser wird dann den Arbeitsmarktzugang in allen EU-Staaten ermöglichen. Als Kriterium soll bloss ein „Berufspraktikum“ (nicht eine Berufslehre!) und eine Eignungsprüfung gelten. Soweit präsentiert sich sehr verkürzt der Mechanismus der 24-seitigen, eng bedruckten Änderungsrichtlinie.

 

Diese verschärfte Berufsanerkennungsrichtlinie ist im November 2013 erlassen worden und sie soll im Jahr 2020 (beginnend allerdings schon ab 2016) von allen Akteuren in der EU vollumfänglich umgesetzt werden. So weit ich die bisherige Publizistik und die Kritiken übersehen kann, gehen die Interpretationen dieses neuen Brüsseler Verwaltungsmonsters weit auseinander (und ich räume ein, dass viele Auswirkungen auch nicht abschätzbar sind).

 

Nationale Vorschriften aushebeln

Die Richtlinie hat ganz klar die Absicht und das Ziel, die Anerkennung der Berufe innerhalb des ganzen EU-Raums über die dynamische Weiterentwicklung der Personenfreizügigkeit zu erzwingen. Man will die berufliche Mobilität innerhalb Europas erleichtern, indem man die nationalen Zulassungsvorschriften für die reglementierten Berufe aushebelt und einer einheitlichen Brüsseler Ordnung unterstellt.

 

Was sind denn reglementierte Berufe? Bis jetzt  hatte jedes Land eine eigene Liste. In der Schweiz zählt der Katalog volle 168 reglementierte Berufe. (www.sbfi.admin.ch/diploma). Sie umfassen allein im Gesundheitsbereich 45 Berufsbezeichnungen, von Apothekern und Drogisten bis zu Kosmetikerinnen, von medizinischen Praxisassistentinnen und Pflegefachpersonen bis zu den Optikern, Zahnärzten, und Ärzten. Im gewerblichen Bereich umfassen sie die gastgewerblichen Betriebsleiter, die Seilbahntechniker, Architekten und Kaminfeger, die Hufschmiede und Tierpfleger. Sodann figurieren zahlreiche Bildungs- und Erziehungsberufe, Fahrlehrer, Lehrpersonen bis zu Sozialarbeitern auf der Liste. Diese Berufe sind wohl nicht vollzählig, aber potentiell der zukünftigen EU-Reglementierung unterworfen.

 

Deutsche Gewerbeberufe direkt bedroht

Es ist nicht erstaunlich, dass sich die Träger der Berufsbildung in den Ländern mit einem dualen Berufsbildungssystem als erste gegen diese Gleichmacherei zur Wehr setzen. Zwar könnte ein EU-Land wie Deutschland seine strengeren Berufsanforderungen weiter behalten, aber „naheliegend ist, dass sie (die EU-Kommission) die hohen deutschen Anforderungen in andern Ländern auf einem mittleren Niveau angleichen wird“, schreibt der erwähnte Prof. Gerken: „Zumindest die weniger begabten Auszubildenden in Deutschland werden die dann leichtere EU-Prüfung wählen. Es droht also ein Qualitätsverlust.“

 

In Deutschland ist für die selbständige Berufsausübung und Betriebsgründung in 41 Handwerksberufen ein „Meisterbrief“ notwendig – also eine Meisterprüfung nach deutschem Recht. Diese 41 Berufe decken 95 Prozent aller Ausbildungsverhältnisse im Gewerbe mit 400 000 Lehrlingen ab. Auch in Deutschland ist die KMU-Wirtschaft – wie in der Schweiz – die Hauptträgerin der dualen Berufslehre. Und auch in Deutschland befindet sich die Lehre in Bedrängnis der Akademisierung

 

Können die EU-Länder mit hohem Berufsbildungsstandard diese Berufsnivellierung Brüssels umgehen? Dazu der Europaspezialist Gerken: „Zwar kann ein Mitgliedstaat der EU-Kommission mitteilen, dass er die EU-Ausbildungsverordnung nicht einführen will. Aber wenn er das tut, kann die Kommission entgegnen, dass das nicht mit dem EU-Recht vereinbar ist. Dann kann sie und wird sie auch, das hat sie schon angekündigt, die Angelegenheit vor den Europäischen Gerichtshof bringen. Der aber entscheidet im Zweifel prinzipiell zugunsten der EU. Er wird daher den Mitgliedstaat zwingen, das EU-System einzuführen.“

 

Schweizer Berufsbildungssystem mit betroffen

Die dynamische Weiterentwicklung des EU-Binnenmarktrechts über EuGH-Entscheide fordert Brüssel auch von der Schweiz. Sie würde zu einer Nivellierung des Berufsbildungsstandards nach unten führen, man müsste den Europäischen Berufsausweis in den reglementierten Berufen auch für Fachleute aus Ländern ohne Berufslehre und mit tieferem Qualifikationsstandard zulassen. Im neu fusionierten Staatssekretariat für Bildung und Wissenschaft SBFI hatten sich die Chefs nach Rückfrage noch überhaupt nicht um diese Entwicklung gekümmert; und dr Jurist, der als Sachbearbeiter die Entwicklung verfolgt und im Gemischten Ausschuss Schweiz-EU mitwirkt, sieht keine Probleme für die rasche Übernahme der Richtlinie durch die Schweiz.

 

Momentan besteht kein Handlungszwang für die Schweiz. Sollte die EU Forderungen stellen, wären sie nach heutigem Recht Diskussionsgegenstand im Gemischten Ausschuss Schweiz-EU.

 

Anders präsentiert sich die Situation jedoch, wenn die Schweiz im Rahmen der automatischen Übernahme des Binnenmarktrechts auch die Dynamisierung und Weiterentwicklung des Personenfreizügigkeitsrechts übernehmen würde, wie sie vom schweizerischen Unterhändler, Staatssekretär Yves Rossier, zielstrebig anvisiert wird: In diesem Falle würde der EuGH die Nivellierung von (reglementierten) Berufen auch in der Schweiz durchsetzen. Dann würde sich das wiederholen, was unsere Universitäten mit der Bologna-Reform heute erfahren, nämlich eine Gleichmacherei nach unten. Eine dynamische Übernahme dieses Teils des Acquis communataire (und nur dieses Teils) und dessen Unterstellung unter die EuGH-Rechtssprechung kommt meines Erachtens nicht in Frage. Die Träger des Berufsbildungssystems tun gut daran, sich bald um diese Langfristentwicklungen zu kümmern und politisch einzuschalten.

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