Reformstau in der EU (Diese armen Griechen)

 Dienstags-Kolumne Rudolf Strahm im  Tages-Anzeiger /TA-Online und Bund vom 4. Juli 2017.

Man stelle sich vor: Unsere Regierung kürzt die AHV-Renten um weitere 19%, nachdem sie vorher schon um einen Fünftel abgebaut worden waren. Bundesplatz und Strassen würden sich flugs zu empörten Protesten füllen.

Ein derartiger Beschluss ist eine von 140 aufgezwungenen, schmerzhaften Spar- und Privatisierungsmassnahmen, die das Parlament Griechenlands jüngst widerwillig akzeptieren musste. Dies als Vorbedingung für die 8,5 Milliarden an neuen Euro-Krediten, von denen allerdings 7,5 Milliarden Euro gleich zur Tilgung früherer Kredite an Europa zurück fliessen. EU und Medien sprachen dabei von „Hilfsgeldern“ – eine sprachliche Irreführung.

Seit dem Ausbruch der Griechenland-Krise sind über 90% der so genannten „Hilfsprogramme“ dazu verwendet worden, die kommerziellen Banken zu refinanzieren und frühere ausländische Darlehen zu tilgen. Die einfachen Menschen zahlen immer noch mit schmerzhaftem Gürtel-enger-schnallen dafür, was die unfähigen und korrupten Regierungen Griechenlands mit den internationalen Banken dem Land vor 2008 eingebrockt hatten.

Der Preis für diese Schuldenknechtschaft ist ein Souveränitätsverlust, der Griechenland zu einem Protektorat von technokratischen Experten der Troika aus EU-Behörde, Europäischer Zentralbank EZB und Internationalem Währungsfonds IWF macht. Heute nennt sich die Troika etwas neutraler „die Institutionen“.

Die aufgezwungenen „Gesundungsprogramme“ der Troika haben das Land nach acht Jahren vollends in die Krise geritten. Das griechische Bruttoinlandprodukt ist um ein Viertel gesunken, die Arbeitslosigkeit ist von 8% im Jahre 2008 auf heute 30% angestiegen. Die Jugendarbeitslosenquote ist jetzt über 50%!

Die Staatsverschuldung ist trotz Sparprogrammen auf 180% des Bruttoinlandprodukts BIP weiter angestiegen. Die Technokraten der EU und der EZB gingen von neoliberalen, monetaristischen Wachstumstheorien aus, die man heute als sektiererisch bezeichnen muss. Mit Staatsabbau bringt man kein Land auf Wachstumskurs und aus der Schuldenfalle.

Fehlleistung der Ökonomen

Der kürzlich verstorbene St.Galler Professor Gebhard Kirchgässner hat am Beispiel Griechenlands folgende Faustregel vorgerechnet: Wenn die Staatsausgaben jeweils um 1 Prozentpunkt des BIP gesenkt werden, geht das BIP um 0,5 % zurück und die Arbeitslosigkeit steigt um weitere 0,3 Prozentpunkte an.

Nach den IWF-internen Analysen haben die Sanierungsprogramme die Wachstumschancen in Griechenland verringert. Das Griechenland-Abenteuer ist eine Fehlleistung von Ökonomen von historischem Ausmass. Gegen alle ökonomische Erfahrung und Vernunft haben die drei Institutionen EU, EZB und IWF einen sich selbst verstärkenden Teufelskreis in die Krise inszeniert.

Der IWF ist jetzt aus der Finanzierungskoalition ausgestiegen und fordert, gegen den knallharten Widerstand der Europäer, einen echten Schuldenerlass für Griechenland von 80 bis 100 Milliarden Euro. Ohne massive echte Schuldenreduktion wird, so das Resultat der IWF-Ökonomen, das Land nie eine tragfähige Entwicklung erreichen. Die EU-Institutionen dagegen bleiben stur, unfähig zu Korrekturen. Jetzt vertrösten sie Griechenland auf 2018 – die Zeit nach den deutschen Wahlen. Deutsche Interessen dominieren die Wohlstandsituation der anderen.

Die linke Syriza-Regierung, die seit zweieinhalb Jahren Griechenland regiert, aber wegen des EU-Protektorats keine Macht ausübt, wird durch das neue Sparprogramm bei der Bevölkerung total in Misskredit gebracht und destabilisiert. Heute würde sie abgewählt. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die europäischen Institutionen vereint mit den alten Regierungseliten Griechenlands zielstrebig auf eine politische Demontage der widerspenstigen linken Regierung hinarbeiten.

In Hinterzimmern der Macht

Wie ist das alles zu erklären? Einen Einblick in die Entscheidstrukturen in den Hinterzimmern der Macht gibt ein Buch des gescheiterten griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis. Er war in der entscheidenden ersten Phase der Syriza-Regierung für 162 Tage im Amt. Der kreative Finanzprofessor und politische Quereinsteiger war als Minister und Diplomat dafür wahrscheinlich völlig ungeeignet. Aber er war konzeptionell fähig, wirksamere, makroökonomisch geprägte Sanierungsvorschläge mithilfe amerikanischer Universitäten ins Spiel zu bringen. Auf über 500 Seiten beschreibt er fast protokollarisch die Details der Verhandlungen mit den EU-Finanzministern und das Dilemma innerhalb der griechischen Regierung. (Sein Buch erscheint im September auf deutsch).

Varoufakis beschreibt ausführlich, wie der EU-Ministerrat funktioniert und wie alles abgekartet ist; wie der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble dominiert; wie der holländische Euro-Gruppenchef Jeroen Dijsselbloem willfährig dessen Politik ausführt; wie die osteuropäischen Finanzminister als „Cheerleader-Team“ (als Applaus-Geber) stets Schäuble unterstützen.

Aufschlussreich ist heute auch, wie 2015 einzig der französische Wirtschaftsminister Emmanuel Macron – heute der Staatspräsident Frankreichs – nach einer Schuldenerleichterung für Griechenland suchte; wie Macron Präsident François Hollande einschalten wollte und zu einer Reise nach Athen animierte; wie Hollandes Reise dann aber kurz vor dem Abflug nach Athen durch Bundeskanzlerin Angela Merkel gestoppt wurde.

Varoufakis zeigt selbstreflektierend, weshalb die EU-Behörden reformunfähig die alten Austeritätsdogmen knallhart durchziehen, durchziehen müssen, trotz anderer Ansichten des IWF in Sachen Schuldenschnitt: Rücksicht auf die Wahlen in Frankreich, in Deutschland, die Angst vor dem Bundestag, die Angst eines Schulden-Flächenbrands.

Schäubles Albtraum ist, so zeigen seine Gespräche mit Varoufakis, dass Italien, Frankreich, Spanien oder Portugal ebenfalls Schuldensanierungen einfordern. „Der einzige Weg, um dieses Ding (er meint die Euro-Zone) zusammen zu halten, ist noch grössere Disziplin“, lautet im kleinen Kreise Schäubles Dogma.

Schäuble war 2015 bereit, dem undisziplinierten Griechenland den Austritt aus der Euro-Zone mit einem Austrittskredit von 11 Milliarden Euro zu ermöglichen – allerdings ohne Erlass der weiteren 300 Milliarden Fremdschulden. Für ihn gab es nur die Wahl zwischen Strangulationsprogramm der Troika oder Rückkehr zur Drachme. Ein Kompromiss lag für ihn und die Osteuropäer ausser Betracht.

Aufschlussreich und vielsagend räumte Schäuble in einem enervierten Moment dem Griechen Varoufakis gegenüber ein: „In der Euro-Gruppe sind Sie wahrscheinlich der Einzige, der verstanden hat, dass die Eurozone nicht überlebensfähig ist.“

Dieses vielsagende Wort des wirtschaftspolitisch mächtigsten Europäers erklärt mehr als alle Politanalysen den Reformstau, die Ängste und die Reform-Tragik in der Europäischen Union. Hoffentlich werden unsere Diplomaten und Unterhändler daraus lernen.

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