Mut zu Varianten in der Europapolitik

Kolumne im Tages-Anzeiger/ Bund vom 24. November 2015,

Mut zu Varianten in der Europapolitik

Flüchtlingsdrama und Terroranschläge beherrschen die mediale Aktualität. Auch der vergangene Wahlkampf war von der Asylproblematik überschattet. Doch niemand mochte über die hängigen Verhandlungen mit der EU in Sachen Personenfreizügigkeit und institutionellen Abkommen reden.

Ich glaube, hinter dem Schweigen zur Europapolitik steckt nicht bloss politischer Opportunismus, sondern Ratlosigkeit, wie es weitergehen soll. Das gibt den Extrempositionen freien Raum: Einerseits jenen, die die EU und Personenfreizügigkeit dogmatisch verteufeln und auf der andern Seite jenen, die das Brüsseler Dogma „Personenfreizügigkeit ist nicht verhandelbar“ genüsslich nachbeten und innenpolitisch ins Feld führen. Was es braucht, ist eine realistische Einschätzung der heutigen EU und der Verhandlungsspielräume.

Kenner sagen unisono: Die EU ist nach diesem Asylsommer 2015 nicht mehr die gleiche wie zuvor. Zwar bestehen die Verträge und die unzähligen EU-Richtlinien auf dem Papier nach wie vor, aber deren konsequente Einhaltung durch die 28 Mitgliedländer schwindet dahin. Hinzu kommt, dass England als grosser Player ultimativ mehr Spielraum und bis 2017 eine Anpassung der EU-Verträge einfordert. Die englische Regierung will unter anderem auch die Sozialhilfepflicht im Rahmen der Personenfreizügigkeit einschränken. Ein Stardiplomat drückte sich so aus: Entweder wird die EU in der Migrationsfrage flexibler werden, oder ihre Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den EU-Mitgliedstaaten wird implodieren. Die Europäische Union ist verändert; spätestens seit der Osterweiterung ist sie nicht mehr eine Solidargemeinschaft, sondern ein koordiniertes Konglomerat nationaler Interessenvertretungen. Dazu gibt es viele Anzeichen:

  • In jüngster Zeit hat die EU-Kommission 40 Vertragsverletzungsverfahren gegen 19 EU-Mitgliedstaaten wegen Missachtung der europäischen Asyl- und Migrationsgesetzgebung (Schengen-Dublin) eingeleitet. Alle wissen, dass diese Anklagen Brüssels nie zu einem rechtskräftigen, vollziehbaren Urteil führen. Das Dublin-Verfahren wird nie mehr wieder hergestellt werden.
  • In den Jahren 2010-2013 musste die EU-Kommission insgesamt 218 Vertragsverletzungsverfahren gegen EU-Mitgliedländer auslösen, auch elf gegen Deutschland.
  • Allein seit Anfang 2014 sind neben dem Asylbereich die EU-Verträge weitere 54 mal durch Mitgliedstaaten verletzt worden, wovon auch vier durch Deutschland. Und zwar auch mit gravierenden Vertragsbrüchen in Kernthemen der Union.

Die Brüsseler Kommunikationsmaschinerie mahnt ständig Richtliniendisziplin an, droht laufend mit neuen Verfahren gegen sündige Mitgliedländer. Und die „eingebetteten Journalisten“ kolportieren dies linientreu und mit drohendem Unterton von Brüssel aus in ihre Herkunftsländer. Auch in der Schweiz ist dies bemerkbar.

EU wird flexibler

Tatsache ist, dass Jean Claude Juncker als einflussreicher, politisch denkender Kommissionspräsident die wichtigsten aussenpolitischen Dossiers dem Europäischen Auswärtigen Dienst EAD, dem EU-Ausssenministerium, unter der unerfahrenen, überforderten Aussenkommissarin Federica Mogherini entzogen und ins Präsidialamt verlegt hat. Auch das „Swiss Desk“, also die für die Verhandlungen mit der Schweiz zuständige Stelle, ist nun vom EAD in den Stab Junckers verlegt worden, was bedeutet, dass mehr politische Flexibilität statt katechetische Kommunikationspolitik zu erwarten ist. Die EU ist heute, realistisch betrachtet, in der politischen Führung beweglicher als das Bild, das unsere Korrespondenten mit Berufung auf die Brüsseler Bürokratie bei uns verbreiten.

Manche Korrespondenten kolportieren uns auch ständig die Drohung vom Hinfall der Bilateralen Verträge mit der Schweiz. Es ist durchaus einzuräumen, dass subalterne Beamte und Diplomaten in Brüssel mit dieser Kommunikationskeule arbeiten. Doch man muss wissen: Wollte die EU den Bilateralen Vertrag mit der Schweiz aufkünden, würde dies Einstimmigkeit unter den 28 EU-Mitgliedstaaten erfordern, denn auch die Ratifizierung war seinerzeit einstimmig erfolgt. In vermutlich 16 EU-Staaten müsste sogar das jeweilige Landesparlament einer Kündigung zustimmen. Man stelle sich vor, welch‘ heftigen Debatten um die in den westlichen EU-Staaten ungeliebte Personenfreizügigkeit mit einem solchen Kündigungsverfahren ausgelöst würden! Dies ist genau der Hintergrund, weshalb die Drohkulisse gegenüber der Schweiz so heftig ausfällt. Anfänglich ist diese Drohrhetorik von schweizerischen Diplomaten aus dem EDA aus eigennützigen, innenpolitischen Gründen sogar ermutigt worden, was der Bundesrat mit personellen Massnahmen abklemmte.

Was bezwecken diese Einschätzungen der Entwicklungen in der EU? Sie sollten nicht zur zweckoptimistischen Selbsttäuschung verführen, aber sie verhelfen zu mehr Realismus. Dem Bundesrat geben sie vorläufig Recht, der behutsam und, ohne sich gänzlich festzulegen, die Zeit zu wiederholten Sondierungsgesprächen mit den politischen Spitzen auch der Nachbarstaaten nutzte. Jedenfalls liegt der Schlüssel für eine pragmatische Lösung nicht allein in Brüssel, sondern auch bei den Regierungschefs unserer Nachbarn.

Diese Entwicklungen in der EU strafen die hiesigen Dogmatiker in den extremen politischen Lagern ab, die die Verhandlungspositionen gänzlich in schwarz oder in weiss, in einer „Vogel-friss-oder-stirb“-Manier, darstellen. Die SVP hatte vor der Abstimmung über ihre Masseneinwanderungsinitiative behauptet, diese sei kompatibel mit den Bilateralen Verträgen – was offensichtlich eine Fehlbehauptung war. Anderseits wird im Blatt der Direktion des EDA für europäische Angelegenheiten von einem Genfer Politologieprofessor behauptet: „Das Schweizer Volk muss sich zwischen einer strikten Umsetzung der SVP-Initiative und der Fortsetzung des bilateralen Wegs entscheiden.“ Auch jene Politiker dramatisieren masslos, die im Falle der Umsetzung der vom Volk angenommenen Masseneinwanderungsinitiative von „Harakiri“, also von Selbstmord, sprechen.

Zeitgewinn bringt Flexibilität

Was sich jetzt aufdrängt, ist eine Abkehr vom Schwarz-Weiss-Denken und eine realistischere Einschätzung. Es braucht zumindest eine Neubeurteilung des zeitlichen Ablaufs der Verhandlungen mit der EU. Die Schweiz wird zurzeit wohl keine Flexibilität bei der Personenfreizügigkeit und den institutionellen Fragen erwarten können. Vielmehr wird sie von osteuropäischen Regierungen, die auf Auswanderungs-Chancen ihrer Bürger drängen, verbal noch stärker geprügelt werden. Aber die Zeit läuft für die Flexibilisierung. Im Windschatten der durch England erkämpften Spielräume könnte die Schweiz auch mehr Flexibilität für sich herausholen, auch wenn ihre Wünsche als Nichtmitglied nicht gleich gelagert sind.

Was passiert, wenn die dreijährige Umsetzungsfrist des Zuwanderungsartikels in der Bundesverfassung (BV Artikel 121 a) nicht eingehalten werden kann? Der Verfassungszusatz der Masseneinwanderungsinitiative sieht vor, dass in diesem Fall der Bundesrat mit einer Verordnung die Zuwanderung regelt und zum Beispiel mit einem Inländervorrang begrenzt. Mit einem solchen „Plan B“ werden flexible, pragmatische Lösungen möglich, die die Vertragskonflikte entschärfen können. Die SVP würde zwar protestieren. Aber man muss ihr klar machen, dass ihre Initiative jetzt Bundesverfassungsrecht ist, dessen Vollzug dem Parlament und der Regierung obliegen, und nicht den Initianten.

Die Frage nach der institutionellen Anpassung an das EU-Recht ist verhandlungsmässig zurückgestellt worden. Aber die EU-Forderung nach einer automatischen Anpassung des EU-Binnenmarktrechts durch die Schweiz mit der Unterstellung unter die Jurisdiktion des EU-Gerichtshofs wird uns wieder einholen. Innenpolitisch ist das Prinzip der „fremden Richter“ ein No-go. Auch deshalb braucht es jetzt Mut zu eigenständigen Varianten.