Die Altersvorsorge ist gerettet

Kolumne im Tages-Anzeiger – Dienstag, 19. November 2013 9

Bald steht uns wieder einmal eine Rentendebatte ins Haus. Bundesrat Alain Berset wird demnächst nach langer Vorbereitung eine ambitiöse Gesamtreform des Systems AHV und zweite Säule präsentieren. Verbände und Parteien werden mit Getöse ihre taktischen Positionen fürs Schaufenster markieren. Die einen werden die Situation unserer Altersvorsorge schwarzmalen und gebetsmühlenhaft die Rentenalterserhöhung verlangen, die anderen umgekehrt den drohenden Sozialabbau überdramatisieren.

Was haben wir in den vergangenen Jahrzehnten nicht alles an Renten- Schwarzmalerei und Fehlprognosen erlebt! Im Jahr 1996, mitten in der damaligen Rezession, präsentierte der Bundesrat den sogenannten IDA-Bericht zur Zukunft der Sozialversicherungen, ausgearbeitet von einer Interdepartementalen Arbeitsgruppe Finanzierung Sozialversicherungen (IDA-Fiso). Hochoffiziell wurde darin mittels demografischer Szenarien die Pleite der AHV vorausgesagt: Bis 2010 werde ein jährlicher «Fehlbetrag» in der AHV von 5 Milliarden anfallen, und es sei bis dahin eine Mehrwertsteuererhöhung von 2,5 Prozentpunkten nötig, so die IDA-Fiso.

Staatskritische Kreise sprachen damals vom «Kollaps des Sozialsystems». Journalisten titelten: «Die Schweizer sterben aus». Seither publizierte die konzernfinanzierte Ideologiefabrik Avenir Suisse mehrere Kampfschriften, mit denen sie ein ums andere Mal die Rentenkeule der gesellschaftlichen Alterung prognostizierte und vor einem Systemkollaps warnte.

In Wirklichkeit geht es der AHV heute blendend. Sie konnte die Reserven im AHV-Fonds Jahr für Jahr erhöhen. Sie hat keine Defizite, kennt keine Unterdeckung und sie hat auch für die Zukunft keine «impliziten Schulden», wie es Schwarzmaler mit skurrilen Prognoseannahmen konstruierten. Allerdings fliesst, und das müssen sich auch die linken Zweckoptimisten von damals sagen lassen, das zweckgebundene Mehrwertsteuerprozent seit rund 13 Jahren in die AHV. Es bringt heute jährlich rund 2,6 Milliarden Franken in die AHV-Kasse.

Seit den 1960er-Jahren ist die finanzielle Zukunft der AHV stets zu pessimistisch prognostiziert worden. Weshalb diese ständigen Fehlprognosen? Der Grund: Das Wachstum der Lohnsumme wurde stets unterschätzt! Massgebend für die Einnahmen der AHV sind eben nicht die Löhne (gemessen am Lohnindex), sondern die Gesamtlohnsumme, die auch die Zunahme der Arbeitnehmenden und deren individuellen Aufstieg einschliesst. Dabei hat auch die starke arbeitsmarktliche Zuwanderung und die höhere Erwerbsbeteiligung der Frauen die AHV-Kasse alimentiert.

Seit Jahren erleben wir einen Wiederanstieg der Geburtenhäufigkeit bei Schweizerinnen – bessere Kinder-Betreuungsangebote, mehr Teilzeitarbeitsstellen und der Wertewandel zugunsten der Familie tragen dazu bei.

Aus all diesen Gründen sind die schwarzmalerischen, angeblich «wissenschaftlichen» Langfristprognosen der Demografie- und Lohnsummenentwicklung zu Prognoseschrott geworden.

Nun kommt der Bundesrat, wie erwähnt, demnächst mit einem kombinierten Gesamtreformpaket für die AHV und die zweite Säule, das weder Zweckpessimismus noch Zweckoptimismus bemüht, sondern die Unsicherheiten der zukünftigen demografischen und wirtschaftlichen Entwicklung flexibel und pragmatisch einkalkuliert.

Bei der AHV ist Realismus nötig: Eine Zusatzfinanzierung ist bis etwa 2020 nicht dringend. Die Renten- Schwarzmalerei ist unredlich und interessenorientiert. Doch realistischerweise ist die unsichere Bevölkerungsentwicklung schon jetzt einzurechnen: Wahrscheinlich benötigt die AHV zum Renten-Erhalt im Jahrzehnt 2020–2030 ein zusätzliches Mehrwertsteuerprozent und dann im übernächsten Jahrzehnt ein weiteres Prozent, um die demografische Entwicklung abzusichern (oder dann Alternativen wie eine Erbschaftssteuer für die AHV).

Das ist bezahlbar: Wer bei Migros oder Coop einen durchschnittlichen Wocheneinkauf von 100 Franken tätigt, zahlt bei einem zusätzlichen Mehrwertsteuerprozent 60 Rappen mehr. Wer bemerkt das schon in dieser langen Frist?

Bei der Reform der zweiten Säule mit ihren Pensionskassen, wo auch die Privatassekuranz sowie die Kapitalanlagenszene von Banken, Anlagefonds, Asset Managern und Beratern mitverdienen, ist eine Kompromisslösung schwieriger. Eine Reform müsste einerseits mit einer massvollen, schrittweisen Senkung des Umwandlungssatzes die Alterung berücksichtigen, aber anderseits zwingend auch eine volle Transparenz und die Senkung der Unkosten sowie ein Verbot von riskanten und teuren Spekulationsanlagen wie Hedgefonds durchsetzen. Es sind wenige redlich genug, einzugestehen, dass heute laut BSV-Expertisen Jahr für Jahr 5,7 Milliarden Franken der zweiten Säule in Form von Vermögensverwaltungs- und Verwaltungskosten versickern. Dies entspricht einem Fünftel der jährlichen Renten- und Kapitalleistungen der zweiten Säule! Oder jährlich 0,9 Prozent des angesparten Pensionskassenkapitals!

Ich gebe einer Gesamtkonzeption «Reform AHV und zweite Säule», sollte sie dereinst als Kombipaket vors Volk kommen, keine Chancen. Eine Gesamtreform ist zwar intellektuell bestechend und entspricht dem welschen Drang nach ganzheitlicher Betrachtung. Aber bei solchen Gesamtkonzeptionen mit zahlreichen Variablen kumulieren sich jeweils die unterschiedlichsten Nein-Stimmen zu einer Nein-Mehrheit. Doch in ihren Einzelteilen ist die Berset-Rentenreform realistisch, pragmatisch und weniger ideologiebesetzt als die frühere IDA-Fiso oder die gescheiterte 11. AHV-Revision.

Die Renten-Schwarzmaler haben bisher einzig die Erhöhung des Rentenalters auf 66 und 67 gefordert. Doch die Wirtschaftswirklichkeit zeigt ein gegenläufiges Bild: Die Hälfte aller Arbeitnehmer in der Schweiz wird heute von den Arbeitgebern vorzeitig, also vor dem AHV-Rentenalter, in Pension geschickt, bei Grosskonzernen noch mehr: Bei Novartis sind es 89 Prozent, bei der Basler Versicherung 80 Prozent und bei den Grossbanken 55 Prozent Frühpensionierungen.

Eine generelle Erhöhung des Rentenalters ist angesichts dieser Realitäten in einer Volksabstimmung schlicht chancenlos. Eine Flexibilisierung rund um das Referenzrentenalter 65 und eine Angleichung der Geschlechter hingegen scheint mir im Rahmen einer ausgewogenen Reform unter Einbezug einer zukünftigen Zusatzfinanzierung möglich. Etwas mehr Realitätswahrnehmung und Kompromissbereitschaft braucht es wohl in allen Lagern!

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