Der süsse Traum vom bedingungslosen Grundeinkommen

Artikel Rudolf Strahm für “InfoSperber”, exklusiv.   1.Juni 2012.  Definiter Text.

 

Im April 2012 wurde die Unterschriftensammlung für eine eidgenössische Volksinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen gestartet. Das Thema ist, auch wenn ein Zustandekommen der Initiative ungewiss ist, auf der

helvetischen Traktandenliste.

 

Ein bedingungsloses Grundeinkommen für Alle? Auf den ersten Blick entsteht eine Faszination für diese visionäre Idee. Denn sie verkörpert den ewigen Menschheitstraum vom selbstbestimmten Leben, von Autonomie und von der Flucht aus der entfremdenden Arbeit.

 

Auf den zweiten Blick kommt Ernüchterung auf bei der konkreten Vorstellung, dass Menschen vom Staat lebenslänglich als Berufsrentner unterhalten werden sollen.

 

Doch ein dritter, näherer Blick mag auch Kopfschütteln über die gesellschaftlichen Auswirkungen auf die Arbeitsmotivation und die exorbitanten Kosten eines solchen realitätsfremden Konstrukts auslösen.

 

Das Initiativprojekt für ein bedingungsloses Grundeinkommen ist nach der Lancierung im April 2012 bei den Medien schlecht aufgenommen worden. Von der Ökonomenzunft wird es als realitätsfremde Utopie mit Häme ignoriert. Wenn ich mich – wenn auch kritisch – mit einem derart utopischen Projekt auseinandersetze, signalisiere ich, dass ich einer Utopie eine Diskussionswürdigkeit und Wertschätzung zugestehe.

 

Was heisst überhaupt „bedingungsloses Grundeinkommen“?

 

Viele Leute verwechseln das bedingungslose Grundeinkommen mit dem gesetzlichen Mindestlohn, wie dies die Gewerkschaften mit einer bereits eingereichten Volksinitiative fordern. Der gesetzliche Mindestlohn will eine Arbeitsentschädigung, die Allen zum Leben reicht. Das sind etwa 22 Franken Stundenlohn.

 

Das bedingungslose Grundeinkommen jedoch will jedem Bewohner über 18 Jahre ein Grundeinkommen vom Staat garantieren, ohne Bedingung, ohne Arbeitsleistung, ohne Befristung, eine lebenslängliche, automatische Rente, die zum Leben reicht. Im Verfassungstext ist die Höhe nicht beziffert, aber die Initianten sprechen in der Pressepräsentation und im Begleitbuch von 2500.- Franken Monatsrente für jede erwachsene Person und 625.- Franken für jedes Kind und jeden Jugendlichen in der Schweiz (Müller/Straub: Die Befreiung der Schweiz. Ueber das bedingungslose Grundeinkommen. Limmat Verlag Zürich 2012). Die Höhe soll laut Verfassungstext „der ganzen Bevölkerung ein menschenwürdiges Dasein und die Teilnahme am öffentlichen Leben ermöglichen“. Diese Einheitsrente aus einer einzigen Quelle soll dann die andern, bisherigen Sozialversicherungen und Sozialinstitutionen ablösen.

 

Hinter dem Konzept steht eine Vision, nämlich ein selbstbestimmtes Leben, eine Befreiung von entfremdeter Arbeit. Es geht „in erster Linie um Menschenwürde“ (Oswald Sigg). Die Utopie der „Befreiung der Schweiz“, wie die Initianten sie etikettieren, steht in der Tradition des Thomas Morus oder des André Gorz, der mit seinen früheren Schriften („Abschied vom Proletariat“) von einer Verbannung der „heteronomen Sphäre“ (also der Entfremdung im Marx’schen Sinne) suchte. Die Verteidiger des Konzepts auf der andern Seite werfen den Kritikern Angst vor Utopien vor, ja sogar „Kontrollverlust vor dem Neuen“.

 

Die gesellschaftlichen Fragen, von denen das Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens ausgeht, sind ernsthaft und aktuell. Doch die Antwort darauf ist nicht zu Ende gedacht. Den Ursprung der derzeit vermehrt gehandelten „Erlösungskonzepte“ muss man im allgemeinen Krisen- und Umbruchbewusstein bei weiten Kreisen der (jungen) Bevölkerung suchen: Es sind die „Empörten“. Ihr Ausgangspunkt ist die Empörung über Ungerechtigkeiten, Finanzkrise, Arbeitslosigkeit, Ausgeliefertsein und Perspektivenlosigkeit der Jungen. Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche provozieren die Sehnsucht nach neuen Ufern mit neuen Projekten. Wer sie ernst nimmt und sie nicht bloss als Weltverbesserer-Sektierertum ignoriert, setzt sich damit auch auseinander.

 

Tödliches Gift für die Jungen: Zerstörte Eigenverantwortung

 

Ich nenne gleich vorweg meine Grundmotivation gegen das Konzept einer bedingungslosen, lebenslänglichen Rente: Ich möchte nicht, dass unsere Kinder oder Kindeskinder in eine Gesellschaft geboren werden, in der Jede und Jeder vom Staat zum lebenslänglichen Berufsrentner gemacht wird. Das Versprechen eines ständigen Staatsunterhalts würde zum Motivations- und Energiekiller für manche Jugendlichen, nicht für alle, aber es wäre ein gesellschaftlicher Anreiz zu einer Null-Bock-Grundhaltung mit verpassten Lebenschancen.

 

Seit Jahren befasse ich mich mit Berufsbildung und Armutsprävention über Berufsintegration: Jeder Oberstufenlehrer, jede Berufsberatungsperson, jeder Berufsausbildner kann erzählen von den Motivationsschwierigkeiten mancher Jugendlicher. Oft sind sie nur temporär, aber akut in der wichtigsten Integrationsphase zwischen 15 und 20. Die Aussicht auf eine bedingungslose, lebenslängliche Staatsrente ist ein Motivationskiller. Ein Drittel der Jugendlichen sind heute Menschen mit Migrationshintergrund. Sie oder ihre Eltern kommen aus Ländern, in denen man sich weniger über die Arbeit definiert. Ist es nicht verantwortungslos und realitätsfern, diese in ein Erwachsenenalter zu entlassen, das eine bedingungslose, lebenslängliche Staatsrente verspricht?

 

Junge bleiben mit 2500 Franken Monatsrente zwar arm, aber sie kommen sich zufrieden gestellt vor, wenn sie damit vor einer Lehre oder einer Schule und  vor der harten Berufsintegration flüchten können. Ein junges lediges Paar mit je 2500 Franken kann sich mit 5000 Franken gemeinsamem Einkommen bedingungslos aufs Sofa setzen. Wie steht es mit der Eigenverantwortung des (jungen) Menschen für seine Existenz, für seine Zukunft? „Eigenverantwortung“  ist ein bürgerlicher Begriff, besetzt von den Sozialabbauern, Sozialstaatsgegnern und neoliberalen Moral-Hazard-Theoretikern. Aber soll man das Erziehungskonzept des (oft harten) selbstverantwortlichen Lebens nur diesen überlassen?

 

Gewiss, manche Jugendliche würden reisen, Kunst und Kultur pflegen, sinnvolle Nischen suchen, wenn sie nur ein Existenzeinkommen hätten. Gewiss wird es Menschen jeden Alters geben, die sich mit einem sicheren Existenzeinkommen zusätzlich regen, mit kreativen Tätigkeiten, mit zivilgesellschaftlichen Engagements. Deshalb übt die Idee einer bedingungslosen Existenzsicherung durch den Staat eine besondere Faszination bei Kulturschaffenden, Intellektuellen und Theologen aus, die aus ihrer persönlichen Erfahrung heraus ihre besondere idealtypische Vorstellung vom selbstbestimmten, autonomen Leben ableiten.

 

Was ist denn das für ein Bild der Arbeit?

 

Doch was steht denn für ein Bild über die Arbeit und über den arbeitenden Menschen hinter der Vision eines Lebens ohne Entfremdung und Zwang? Im Grunde steht unbewusst ein elitäres Verständnis von Arbeit und Arbeiten hinter diesem Menschenbild: Die Lohnarbeit wird als entfremdend, als Zwang, als fremdbestimmte Bolzerei verstanden. Das unbezahlte, selbstbestimmte kreative Arbeiten oder die ethisch hochstehende freiwillige Betreuungsarbeit im sozialen Netzwerk jedoch soll mit dem bedingungslosen Staatslohn gefördert und entschädigt werden.

 

Die bezahlte Arbeit ist eben nicht einfach Entfremdung, vielmehr bei vielen auch Erfüllung. In unserer Gesellschaft gibt es keine grössere Demütigung eines jungen Menschen, als das Gefühl, nicht gebraucht zu werden. Eine bedingungslose, lebenslängliche Abfindung fürs Nichtstun wäre für viele ein Motivationskiller.

 

Der Kulturanthropologe Richard Senett (Buch: „Handwerk“, Berliner Taschenbuch Verlag 2008) zeigt, dass auch Handwerk, auch praktische Tätigkeiten, auch scheinbar entfremdende, repetitive Anstrengungen dem Menschen die Würde bewahren können.  Arbeit, die vielleicht dem Intellektuellen und Künstler als entfremdet erscheint, hat für Viele eine erfüllende Funktion. „Der Wunsch, eine Arbeit um ihrer selbst Willen gut zu machen“ (Senett), etwa die handwerkliche Arbeit als „Dialog mit den Materialien“, ist für viele Würde und Erfüllung, nicht Entfremdung. Hinter der Einstellung zur Arbeit, zur Leistung und zur  produzierenden Tätigkeit steht immer auch ein Menschenbild, das letztlich nicht diskutiert werden kann. Und deshalb wird das Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens zur Glaubensdoktrin.

 

Auch Entfremdung gehört zur Arbeit

 

Zum Grundkonzept des bedingungslosen Einkommens  gehört die Idealisierung der Kreativität, der familiären und nachbarschaftlichen Betreuung und Pflege, der freiwilligen Netze. Wer 2500 Franken pro Monat empfange, werde frei für unbezahlte humanitäre, karitative und kreative Tätigkeiten. Entspricht dies der Realität? Wer übernimmt aus Freiwilligkeit und auf längere Dauer Pflege-, Betreuungs- und zivilgesellschaftliche Pflichten? Wer übernimmt dann die wirklich unangenehmen Arbeiten und Pflichten, wer macht die repetitiven Arbeiten, eben das, was als entfremdete Arbeit gilt?  Der gesellschaftliche Trend läuft seit Jahren weg  von der Freiwilligkeit in Richtung von Anreizen und marktüblicher Entschädigung.

 

Vieles ist umstritten und im Fluss in der Gender-Ökonomie. Aber es konnte noch niemand belegen, dass ein bedingungsloses, arbeitsfreies Staatseinkommen die Care-Ökonomie befördern und die Männerbeteiligungsquote in der freiwilligen Betreuung erhöhen würde. Die Pflege- und Betreuungsleistungen müssen als Arbeit besser entschädigt werden, nicht mittels bedingungsloser Staatsrente!

 

Das bedingungslose Grundeinkommen wird zu einer Chiffre für Problemlösungen gebraucht (oder missbraucht), die es gar nicht erfüllen kann. Eben zum Beispiel mit dem Versprechen, es würde die Segmentierung der Gesellschaft verhindern oder die soziale Betreuung sicherstellen. Der Mitinitiant und Kulturschaffende Endo Anaconda verspricht sich vom bedingungslosen Grundeinkommen bessere Menschen: “Männer werden bessere Väter. Männer werden bessere Künstler.“ (20.5.2012)

 

Ein Leserbriefschreiber im Gewerkschaftsblatt „Work“ formuliert treffend das Sehnen hinter dem bedingungslosen Grundeinkommen: „ Alleinerziehenden Müttern und ihren Kindern wird der erniedrigende Gang zum Sozialamt erspart. Die Idee bindet dank einfachem Konzept unsere Bürokratie zurück. Sparen wir Geld und verteilen es  direkt ohne teuere Administration, Stipendien, Ergänzungsleisten, individuelle Krankenkassenverbilligungen (und wie die vielen Kässeli alle heissen) fallen weg. Der Staat gibt allen Brot, wer Butter will, darf nach wie vor arbeiten.“

 

Faszination weniger Staat

 

Dieses repräsentative Zitat signalisiert indes eine Ernüchterung gegenüber dem bürokratischen Sozialstaat. Ein Motiv für ein generelles, bedingungsloses, einheitliches Grundeinkommen für alle ist das historisch gewachsene System der heutigen Sozialstaatseinrichtungen. Jedes Sozialwerk hat seine eigene Rechtsgrundlage, seine spezifische Betreuungskultur, seine separate Administration und seine verfassungsmässige Finanzzierungsgrundlage. Auf Bundesebene sind dies: AHV (plus EL), IV (plus EL), EO, BV, KV, UV, ALV. In den Kantonen: Familienzulagen, Sozialhilfe, Stipendien.

 

Die interinstitutionelle Zusammenarbeit unter diesen Institutionen ist mangelhaft, die eine Hand weiss oft nicht, was die andere tut. Angesichts dieser für Aussenstehende unübersichtlichen Institutionenbürokratie ist die Idee nahe liegend und  verführerisch zugleich, alles zusammen zu legen und nur noch einen einzigen Sozialtransfer mit einem Einheitsrentensatz und einer einzigen Kasse für alle zu kreieren.

 

Das Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens ist keine soziale Idee und seine Schöpfer haben neoliberale  Ursprünge. Der Antietatist Milton Friedman war einer der ersten. Er wollte den „Sozialapparat“ des Staates abschaffen und den Bedürftigen mit einer „negativen Einkommenssteuer“ (also einer Staatsrentenzahlung) das Hungern ersparen. Der Oesterreicher Friedrich A. von Hayek legte mit seiner verbissenen Kampfschrift „Wege zur Knechtschaft“ (unter „Knechtschaft“ versteht er den Sozialstaat) den Startschuss zum neoliberalen Kampf gegen die Staatsbürokratie und für die Reduktion auf eine minimale existenzsichernde Armenhilfe. Der Antietatist Thomas Straubhaar und der Bankökonom Klaus Wellershoff befürworten das bedingungslose Grundeinkommen. Für sie ist es nicht primär eine Sozialmassnahme, sondern eine  Strategie zur Verschlankung des Staates. (Beide haben sich allerdings nach der Lancierung der eidgenössischen Volksinitiative den Medieneinladungen entzogen. Ihnen schwebt wohl eher ein Grundeinkommen auf dem Hartz IV-Niveau von 540 Euro pro Monat vor.)

 

Bedingungsloses Grundeinkommen bekämpft nicht die Armut

 

Die Durchschnittsrechung der Initianten ist simpel: Gesamtsozialausgaben des Staates dividiert durch die Anzahl Köpfe. Eine solche Durchschnittsrechnung ist halsbrecherisch, weil wir in der gesellschaftlichen Wirklichkeit schwere Armutsfälle neben schwer Reichen haben.

 

In der Schweiz gibt es schätzungsweise 300’000 schwer Pflegebedürftige: Alte mit Demenz und Behinderungen, Invalide, geburtlich, zerebral oder unfallmässig Behinderte. Deren Pflegekosten in einer höhern Pflegebedürftigkeitsstufe betragen 100’000 bis 120’000 Franken pro Jahr. Schwere Operationen an Gelenken, die zu über neunzig Prozent von den Krankenversicherungen und vom Staat finanziert werden, belaufen sich auf 20’000 bis 40’000 Franken, jene am Herzen auf 50’000 bis 100’000 Franken. Reintegrations- und Rehabilitationsmassnahmen kosten pro Jahr 50’000 Franken und mehr. Sollen solche Fälle von Armutsrisiken bloss mit 2500 Franken Monatsrente abgegolten werden? Die Initianten drückten sich bisher um solche unangenehmen Tatsachen der Realität.

 

Man muss wissen: Zur Armutsbekämpfung oder Armutsprävention taugt das bedingungslose Grundeinkommen nicht! Die einen brauchen ein Mehrfaches vom Staat – die andern jedoch brauchen nichts. Das ist kein soziales Konzept, sondern ein fundamentaler, gezielter Angriff auf den Sozialstaat, der neben der kausalen Alterssicherung unverschuldete Armut, Behinderung und Bedürftigkeit ausgleicht. Mit 2500 Franken einheitlicher Monatsrente kann er das nicht.

 

Man kann durchaus zum Schluss kommen, dass der historisch gewachsene Sozialstaat in gewissen Bereichen falsche Anreize setzt und vor allem wegen der Institutionenvielfalt auch Streuverluste und Verzerrungen verursacht. Doch das bedingungslose Grundeinkommen ist ein derart andersartiges, fundamentalistisches Konzept, dass es nicht einmal zur Heilung der Mängel des bisherigen Systems dienen kann.

 

Abenteuerliche Kostenrechung

 

Die Initianten rechnen mit 6 Millionen Erwachsenen, die jährlich 30’000 Franken bedingungsloses Grundeinkommen beziehen, und mit 2 Millionen Kindern und Jugendlichen, die 7500 Franken zugute haben. Grössenordnungsmässig müssten also 200 Milliarden Franken abgeschöpft und umverteilt werden (bei einem Bruttoinlandprodukt von derzeit 550 Milliarden Franken).

 

Die Gesamtleistungen aller Sozialversicherungen und Sozialhilfen umfassen die Grössenordnung von 140 bis 150 Milliarden pro Jahr. Ohne die Zahlungen der Zweiten Säule sind es rund 100 Milliarden (man kann ja wohl die bestehenden Pensionskassenersparnisse nicht einfach enteignen). Die zusätzlichen Finanzierungen müssten gemäss Initiativkonzept durch eine „Konsumsteuer“ finanziert werden. Im europäischen Kontext kommt für die Konsumbesteuerung  nur die Mehrwertsteuer in Frage.

 

Ein Prozentpunkt Mehrwertsteuer ergibt bei uns derzeit rund 2,6 Milliarden Franken Bundeseinnahmen. Man müsste also auf den heutigen Mehrwertsteuer-Normalsatz von 8% zusätzliche 30 bis 40 Mehrwertsteuerprozente hinzuschlagen, notabene mit einer entsprechenden Erhöhung des allgemeinen Preisniveaus. Die bisherigen Lohnprozentabgaben an die Sozialversicherung sind dabei noch nicht ersetzt. – Das soll keine exakte Rechung sein, sondern bloss eine gedankliche Annäherung an die gigantische Umverteilungsmaschinerie durch ein generelles Grundeinkommen für Alle. Verteilungsmässig dient es letztlich den Reichen.

 

Der Initiant Daniel Straub behilft sich mit einer abenteuerlichen Kalkulation, indem er annimmt, dass die erhöhten Konsumsteuern durch entsprechende Senkung der Produktionspreise im Inland kompensiert werden könnten: Das bedingungslose Grundeinkommen vom Staat würde dann eine Lohnsenkung im Inland für alle Produzenten erlauben, und diese Lohnsenkung würde zu einer Produktionskostensenkung und Preisreduktion der Produkte führen. Wer bisher 6000 Franken Lohn bezog, soll nach ihm nur noch 3500 Franken Arbeitslohn erhalten, und zusätzlich das allen zustehende Grundeinkommen von 2500 Frankenmonatlich.

 

Ist eine solche (deflationäre) Preissenkung möglich? Die Schweiz importiert Waren für rund 200 Milliarden; das sind im Ausland produzierte Konsumgüter für die Haushalte und Halbfabrikate und Vorleistungen für die Unternehmen. Diese Importgüter werden preislich gewiss nicht gesenkt werden können. In grosszügiger Weise vernachlässigt er die gesamten Importe in der offenen Volkswirtschaft. Seine abenteuerliche Rechnung basiert auf einer Inselökonomie – ohne Importe und Exporte, ohne Einkaufstourismus über die Grenze, ohne Konkurrenz zum Beispiel aus den Tieflohnländern Ostasiens.

 

Die Initianten verzichten (oder vergassen) in ihrem Initiativtext auf eine Bezifferung eines Konsumsteuersatzes. Der Mehrwertsteuersatz (von derzeit 8%) ist aber heute in der Bundesverfassung beziffert. Wollte man ihn anheben, müsste die Verfassung erneut abgeändert werden. Ansonsten bliebe der Verfassungstext gemäss Volksinitiative selbst bei deren Annahme toter Buchstabe. Das ist eine Publikumstäuschung.

 

Keine Massnahme gegen Arbeitslosigkeit

 

Gewisse Kreise und vor allem ausländische Autoren, die sich mit der weltweiten Arbeitslosigkeit befassen, erhoffen sich vom bedingungslosen Grundeinkommen eine Umverteilung der Ressourcen zugunsten der Unterbeschäftigung. Die hohen Jugendarbeitslosenquoten im Ausland (z.B. in der EU-27 von durchschnittlich 22%) sind meines Erachtens schlagzeilenwürdiger als die Details zur europäischen Finanzkrise, mit der wir täglich medial gefüttert werden.

 

Die hohe Jugendarbeitslosigkeit im Ausland ist allerdings nicht primär das Resultat der Rezession, sondern der falschen, arbeitsmarktfernen Ausbildung. In europäischen Staaten, die keine Berufslehre kennen, ist die Jugendarbeitslosigkeit fast drei Mal höher als in den wenigen Ländern mit einem dualen Berufsbildungssystem: dies sind die Schweiz, Oesterreich, Westdeutschland, Holland. Wo kein ein praxisorientiertes Ausbildungssystem auch für nichtakademische Berufe existiert, gibt es am meisten Jugendarbeitslosigkeit. (Strahm: Warum wir so reich sind. Wirtschaftsbuch Schweiz. Bern 2010)

 

Wie steht es nun mit der Arbeitslosigkeit in der Schweiz? Bei uns pendelt die Jugendarbeitslosenquote je nach Jahreszeit zwischen 3 und 5 %. Die Gesamterwerbslosenquote liegt schweizweit auf gleich tiefem Niveau (bei allerdings höheren Quoten in der lateinischen Schweiz). Das Risiko arbeitslos zu werden, ist bei den Ungelernten drei mal höher als bei Personen mit einem Berufsabschluss. Die Jugendarbeitslosigkeit ist ein Problem der mangelnden oder fehlenden Berufsausbildung, der missglückten Berufsintegration, der Bildungsferne. Und ausgerechnet diese Integration würde durch ein bedingungsloses Grundeinkommen wegen fehlender Anreize gefährdet!

 

Die Schweiz leidet nicht unter dem Problem, dass uns die Arbeit ausgeht. Im Gegenteil: Der Zahl der Erwerbstätigen ist in der Schweiz seit seit dem Jahr 2000 um 600’000 gewachsen, umgerechnet auf Vollzeitbeschäftigte um über 400’000. Dieser Arbeitskräftebedarf induzierte die hohe Zuwanderung und den Grenzgängeranstieg. Es ist deshalb völlig unzulässig, ausländische Konzepte zur Umverteilung der Arbeit auf die Schweiz zu übertragen. Die von den Initianten erhoffte oder angestrebte Verminderung des Arbeitsvolumens würde in einer offenen Volkswirtschaft im Zeichen der Personenfreizügigkeit durch Rekrutierung von Personal im Ausland kompensiert werden: Durch weitere Zuwanderung zum Arbeitsmarkt Schweiz und Zuwanderung ins Sozialsystem!

 

Fragen an die Initiative

 

Utopien und Visionen müssen nicht jede technische Frage zum vornherein beantworten. Es wäre eine Killerstrategie, wenn man nun von der Initiative, die sich als Utopie „zur Befreiung der Schweiz“ versteht, nun schon alle Antworten einfordern würde. Aber eine Utopie muss immerhin auch Grundsatzfragen in der Konfrontation mit der Realität beantworten, zum Beispiel diese:

  • Wie kann ein bedingungsloses Grundeinkommen in einem Lande mit offenen Grenzen im Zeichen der Personenfreizügigkeit und der freien

Zuwanderung zum Arbeitsmarkt und zum Sozialsystem realisiert und finanziert werden?

  • Was sind die Kosten und zusätzlichen Steuerbelastungen und welche volkswirtschaftlichen Auswirkungen auf Löhne, Preise, Produktionsbedingungen sind zu erwarten? Und was sind die sozialen Umverteilungswirkungen und Zusatzbelastungen der Haushalte durch die erforderliche massive Erhöhung der Mehrwertsteuer?
  • Welche bisherigen bedarfsabhängigen Sozialleistungen sollen neben dem bedingungslosen Grundeinkommen doch noch weiter geführt und finanziert werden ?
  • Wie wird die gewerkschaftliche Initiative für einen gesetzlichen Mindestlohn  (den ich ausdrücklich befürworte) durch das Konzept des bedingungslosen, lebenslänglichen Grundeinkommens für alle konkurrenziert und  gefährdet? Und wie ist das Verhältnis zur ebenfalls eingereichten und wichtigen Initiative für eine Erbschaftsbesteuerung?
  • Was sind die Auswirkungen eines lebenslänglichen Grundeinkommens-Versprechens auf die Motivation, das Lernverhalten und die Selbstverantwortung von jugendlichen Personen?

 

Ich signalisiere mit diesen Fragen, dass ich die Initiative als utopisches Projekt ernst nehme. Aber auch von den Schöpfern einer „Utopie“ darf man erwarten, dass sie sich dem Realitätsbezug stellen.

 

Realistische Neuorientierungen – hier und jetzt

 

Wir brauchen anstelle eines bedingungslosen Grundeinkommens, also einer lebenslänglichen Staatsrente für alle, heute zum Beispiel:

  • ein Engagement für den gesetzlichen Mindestlohn für alle Erwerbstätigen (Volksinitiative der Gewerkschaften);
  • den Kampf für eine Pflicht der Arbeitgeber, pro Hundert Beschäftigte ein bis drei Behinderte oder Erwerbsbehinderte in geschützten Arbeitsplätzen aufzunehmen;
  • noch mehr Anstrengungen, Jugendliche in eine Berufslehre oder berufliche Grundbildung zu bringen, das ist die wirksamste Armutsprävention;
  • eine gesetzliche Pflicht für die bestehenden Sozialeinrichtungen zur interinstitutionellen Zusammenarbeit IIZ oder gar Zusammenlegung der Betreuungsleistungen;
  • besondere Fördermassnahmen und Pflichten bei der Integration bildungsferner Migrationspersonen aus dem Ausland, mit andern Worten: ein Engagement für Fördern und Fordern in der Integrationspolitik.

 

Die Utopie des bedingungslosen, lebenslänglichen Grundeinkommens ist eine Vision für Übermorgen, – aber sie ist auch eine Flucht vor den aktuellen sozialpolitischen Herausforderungen von Heute. Flüchten Sie nicht in die Utopie, um sich von den Pflichten der Gegenwart zu befreien!

 

Rudolf Strahm

 

Bern, im Mai 2012.

 

Interessenbindung des Autors: keine

(Präsident des Schweizerischen Verbands für Weiterbildung SVEB)

 

Literatur: Rudolf H.Strahm: Warum wir so reich sind. Wirtschaftsbuch Schweiz. 2.Auflage 2010. hep-Bildungsverlag Bern.

 

 

 

 

 

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